Ein Gott, der auch fern ist
Ist es ein Zeichen von Gottes Gnade, wenn man selbst überlebt, während andere sterben? Nein, sagt die Hochschulpfarrerin Christiane Thiel.
Christiane Thiel, Pfarrerin der ESG Halle in ihrem Buero in Halle am 27.04.2017. FOTO: Charlotte SattlerCharlotte Sattler/Charlotte Sattler
19.06.2018
1. Sonntag nach ­Trinitatis, 3. Juni 2018
So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weis­sagen!... Es wird euch wohlgehen ... Siehe, es wird ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen! ...
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? ... Ist mein Wort nicht wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?

Jeremia 23,16–29

Ich habe einen älteren Mann erzählen hören, wie er zum Glauben an Gott gefunden hat. Er berichtete, dass er als 17-jähriger Junge in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zum Volkssturm einge­zogen wurde. Seine Kameraden und er mussten vor den Toren seiner Heimatstadt Schützenlöcher ausheben und sich darin verstecken, um dem nahenden Feind Handgranaten entgegenzuschleudern. In der Brusttasche seiner Hitlerjugenduniform hatte er ein Neues ­Testament. In jener Nacht, als der Feind kam, starben die meisten seiner Kameraden. Er überlebte und spürte das Neue Testament in seiner Hemdtasche und versprach, ab jetzt an Gott zu glauben, weil Gott ihn beschützt hatte.

Mich hat diese Geschichte erschüttert, wie viele ähnliche, die ich in meinem Leben gehört habe: Geschichtender Selbsterhöhung, die die Opfer beschämen, deren Leben nicht bewahrt wurde. Es sind dieselben frag­würdigen ­Erzählungen, die alle diejenigen, die nicht von einer Krankheit genesen sind, deren Gebete um ein gesundes Kind von Gott nicht erhört oder deren Flehen um einen sanften Tod nicht erfüllt wurde, nochmals kleinmachen. Geschichten des Sieges von Gottes Gnaden, die für die Person, die vermeintlich gesiegt hat, betörend nach Auserwählung riechen. Aber welch ein Grauen für die anderen!

Gleiches gilt für Berichte von Heilungswundern. Selbst im wundersamen Beschaffen von Autofedern, in der DDR Mangelware, sollte ich Gottes rettendes Eingreifen er­kennen können. Ich höre nur das Gefasel falscher Propheten. "Es wird euch wohlgehen! Kein Unglück komme über euch."

Christiane Thiel, Pfarrerin der ESG Halle in ihrem Buero in Halle am 27.04.2017. FOTO: Charlotte SattlerCharlotte Sattler/Charlotte Sattler

Christiane Thiel

Christiane Thiel ist seit 2016 Hochschul- und Studierendenpfarrerin in Halle/Saale. Sie wurde im sächsischen Freiberg geboren. Sie studierte Mathematik an der Karl-Marx-Universität Leipzig, später Evangelische Theologie auch in Marburg und Berlin. Seit 1995 ist sie Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Sie war Pfarrerin in den Leipziger Gemeinden Markkleeberg-Großstädteln-Großdeuben, Stadtjugendpfarrerin in Leipzig und danach Pfarrerin im Leipziger Stadtteil Holzhausen. Für ihren ersten Roman "Das Jahr, in dem ich 13 einhalb war" bekam sie 2007 den Peter-Härtling-Preis.

Warum rettet Gott den einen Hitlerjungen, während er andere sterben lässt? Warum rettete Gott seine Kinder nicht vor dem Tod im Gas? Warum konnten 14 751 Menschen in der ehemaligen Festung Schloss Sonnenstein in Pirna an der Elbe 1940/41 Euthanasiemorden zum Opfer fallen, während in den schönen Villen auf der anderen Seite der Elbe Gott für Wohlstand sorgte – angeblich oder vermeintlich? Diese Fragen müssen gestellt und gehört werden, wenn zu viel von Gottes rettendem Handeln gefaselt wird. Und wenn vor allem die, die davon reden, sich für Nutznießende der Gnade halten.

Der gute Ort für meinen Glauben ist das Warten

"Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?" Es ist nicht an mir zu hinterfragen, wo Gott in Auschwitz war. Die Deutung gehört unseren jüdischen Geschwistern und den anderen zahlreichen Opfern dieser Zeiten. Bei den Mördern war Gott nicht, auch wenn sie es gern glauben wollten, so viel wage ich zu behaupten. Aber woher soll ich das wissen? Kann ich es ahnen? Eben das ist der Kampf um Gottes Wahrheit, um Gottes Sein und Schweigen oder Reden, von dem hier im Jeremia-Buch die Rede ist.

Die falschen prophetischen Stimmen schmieren Honig ums Maul. Bei der Frage "Wo ist Gott?" geht es ums Ganze. Das ist keine rhetorische Frage, sondern der Schrei der Verlassenen. Die Mutter des vom Giftgas getöteten syrischen Kindes, ihr Verstummen oder ihr Klagen, ihre Verzweiflung oder ihre Gottesgewissheit sind für mein Glauben und Zweifeln wichtiger als fromme Worte. Und wenn das Entsetzen in Fluchen umschlägt und die, die leiden, denen, die siegen, Gottes "Grimm und schreckliches Ungewitter" über den Hals wünschen, kann ich das gut verstehen. Auch ich sehne mich nach einem Gotteswort "wie ein ­Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt". Nur: Wenn ich es höre, wird mir das Wort gefallen? Was, wenn es doch anders klingt, als ich mir wünsche? Der gute Ort für meinen Glauben ist das Warten. Ein Warten im Schweigen. Gott ist fern. Mag es anders kommen.

Bibelzitat

1. Sonntag nach ­Trinitatis, 3. Juni 2018
So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weis­sagen!... Es wird euch wohlgehen ... Siehe, es wird ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen! ...
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? ... Ist mein Wort nicht wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?

Jeremia 23,16–29

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