Ukraine - Im Tunnel der Liebe
Ukraine - Im Tunnel der Liebe
Marco Ristuccia
Im Tunnel der Liebe
Ein Fotograf fand: Die Bahnlinie durch den Wald passt als Kulisse für Hochzeitsfotos. Er warb dafür im Internet. Nun strömen sogar Engländer, Amerikaner, Chinesen und Japaner herbei
Marco Ristuccia Photographer
15.06.2018

Stolz präsentiert Irena ihren Verlobungsring. Andrej hat sie für den Hochzeitsantrag an einen romantischen Ort entführt: in den "Tunnel der Liebe". Während die 18-Jährige ihren Rosenstrauß bewundert, zählt der 25-Jährige zukünftige Bräutigam seine Vorstellungen von der gemeinsamen Zukunft auf: "Zwei oder drei Kinder, eine schöne Wohnung, ein großes Auto. Und wir wünschen uns Frieden. Wir möchten unsere Soldaten nicht mehr an die Front schicken. Uns bleibt insgesamt so wenig Zeit, die sollte man nicht mit Kriegen verbringen. Besser ­lieben, wachsen, blühen und sich vermehren."

Der Krieg scheint in der Nordwestukraine weit entfernt. Der "Tunnel der Liebe", ein ­etwa vier Kilometer langes bogenförmiges Blätterdach zwischen den Dörfern Klewan und Orschiw, entstand in Zusammenarbeit von Natur und Mensch. 1870, als in Orschiw eine Holzfabrik gegründet wurde, schlug man eine eingleisige Eisenbahnverbindung durch den dichten Wald bis zum Hauptbahnhof von ­Klewan, wo das Holz bis heute umgeladen und weitertransportiert wird. Holz aus Orschiw findet sich als Parkett im Winter­palast der Eremitage in Sankt Petersburg. Einige wenige Male pro Tag, je nach Auftragsstand, schnauft ein beladener Zug in gemächlichem Tempo von der Fabrik zum Bahnhof und leer zurück – oft genug, um die Äste der Bäume am Gleisbett sanft in eine Bogenform zu zwingen. Selten genug, dass neugierige Spaziergänger lange unbehelligt auf dem Gleis wandern und die Natur in ansonsten unberührtem Zustand genießen können.

"Mein Wunsch: Zwei, drei Kinder, eine schöne Wohnung, ein großes Auto. Und Frieden"

Nur an wenigen Stellen hat man einen freien Blick auf Sümpfe, kleine Lichtungen und bemooste Baumstümpfe. Froschquaken, Eichhörnchengekeckere, das Surren von Insektenflügeln, Vogelgezwitscher, Schmetter­linge und winzige saphirblaue Libellen, die zwischen den Pflanzen auf- und wieder ab­tauchen – all das verstärkt den Eindruck ­einer Märchenwelt. Zwar kommen die Ein­heimischen schon seit Jahrzehnten hierher, um in den umliegenden Wäldern zu spazieren, zu picknicken und zu küssen. Doch war der Blättertunnel lange Zeit über die Grenzen von Klewan hinaus unbekannt.

Die spektakuläre Internetkarriere vom "romantischsten Ort der Ukraine" über den "romantischsten Ort Europas" bis zum "romantischsten Ort der Welt" begann vermutlich 2009 mit dem jungen Fotografen Serhii Delidon. Er suchte damals außergewöhnliche Orte, um Hochzeitspaare abzulichten – und fand den Tunnel. Obwohl er nur zwei Kilometer entfernt lebt, war er ­vorher nie dort gewesen.

Befreundete Fotografen fragten ihn, wo er diese Fotos mache. Paare wollten sich unbedingt vor diesem Hintergrund verewigen lassen. Im Internet wurden die Aufnahmen ebenfalls immer populärer – bis 2014 ein Locationscout den Tunnel für einen Werbespot von Fujifilm entdeckte. Danach reisten mehrere Filmteams nach Klewan, um Liebesdramen im Tunnel zu drehen. In Asien hat das künstliche Naturmotiv inzwischen Kultstatus erreicht. In China weihte man sogar vor kurzem eine Kopie des Tunnels ein. In den USA und England kann man im Fachhandel Fototapeten mit Tunnelmotiv erwerben.

Die Einheimischen staunen über die chinesischen Geschäftsdelegationen und die meist sehr jungen japanischen Bloggerinnen, die auf der Suche nach dem "romantischsten Ort der Welt" von weit her in das ukrainische Dorf kommen. Die jungen Klewaner schlagen eher den umgekehrten Weg ein, ins Ausland nach Polen, Deutschland und Italien, um dort Geld zu verdienen.

"Wo habt ihr eure Bräuti­game gelassen? Im Wald? Da gibt’s nur Stechmücken"

Eine Händlerin mit karottenrotem Haar, Lesja, positioniert eine ­Gruppe junger Frauen für ein ­Foto um ein großes Holzherz: "Wo habt ihr denn eure Bräutigame ge­lassen?" – "Die gehen wir jetzt im Tunnel ­suchen." – "Außer den Stechmücken ist da aber niemand!" Schon ist die Rentnerin mitten im Verkaufsgespräch. Sie harrt täglich viele Stunden an ihrem kleinen Stand vor dem Eingang des Tunnels aus, und wenn jemand kommt, verkauft sie für wenige Griwna Mag­nete mit farbigen Abbildungen des Tunnels. Einige leuchten sogar im Dunkel. "Die Schulkinder sind meine besten Kunden", sagt sie. Die Einnahmen benötigt sie für ihre Enkel.

Der Wald um die Bahnlinie lichtet sich an einigen Stellen. Paare lassen sich am liebsten dort fotografieren, wo es dicht und dunkel ist

An Wochenenden wird der Besucherstrom stärker: Brautpaare mit Freunden und Fotografen, Familien auf Ausflug, jüngere und ältere Paare. Nikolaj, ein ehemaliger Berufstänzer, von Krankheit und Alkohol gezeichnet, spielt für frisch Vermählte auf seinem Akkordeon ein schräges Ständchen. Und es kommen weitere Händlerinnen dazu: Manja verkauft den vergorenen Brottrunk Kwas. Raja bietet Strohhüte an. Und Rimma stellt selbst produzierten Haarschmuck aus – seit die ukrainische Regierung russische Social Media-Seiten im Internet gesperrt hat, sucht sie nach neuen Verkaufswegen.

Die ausländischen Touristen sind in der Minderheit, die meisten Gäste sind noch immer Ukrainer. Manchmal fährt sogar eine riesige Limousine aus dem etwa 350 Kilo­meter ­entfernten Kiew vor und vollzieht – unter den amüsierten Blicken der Verkäuferinnen – komplizierte Wendemanöver. Viele Besucher machen nur einen kleinen Zwischenstopp, befestigen ein farbiges Liebesband an einen Ast und fahren nach den Fotos gleich weiter.

"Wen ­interessiert die halb­verfallene Festung im Wald? Ein Disneypark muss her!"

Inzwischen hat die Klewaner Dorfverwaltung das touristische Potenzial des Tunnels erkannt. Gemeinsam mit Einheimischen hat sie eine Baumfällaktion verhindert, Müll ­gesammelt und leere Stellen aufgeforstet. Ein asphaltierter Parkplatz wurde angelegt, Hinweisschilder wurden aufgestellt, Toilettenhäuschen aufgebaut, Abfalltüten montiert – alles noch in sehr kleinem Rahmen.

Der Selsowjet, also der Rat der Land­gemeinde, hat schon größere Pläne angekün­digt. In typischer Holzbauweise ­möchte er ­einheitliche überdachte Stände für den Verkauf von Souvenirs errichten. Ein ­Restaurant, ein Spielplatz und Picknickplätze sollen die Gäste zum längeren Verweilen ein­laden. Klewan hat auch die Ruinen eines geschichtsträchtigen Schlosses aus dem 15. Jahrhundert zu bieten. Und ein Kloster mit ­einer uralten Schrift, die Umberto Eco im "Namen der ­Rose" erwähnt. Und überhaupt eine ­idyllische Landschaft mit Flüssen, Mohn­blumen und sanften Hügeln.

700 000 Griwna (etwa 23 000 Euro) werden in den Tourismus investiert, für einen Ort wie Klewan mit 8 000 Einwohnern eine gewaltige Summe. "Ach, das ist längst nicht genug – um etwas zu verändern müsste man ganz andere Beträge ausgeben", sagt Geschäftsmann und Berufsmusiker Jurij Zipak. Ihm gehört "Skolmo", das einzige Hotel in Klewan, eine gepflegte Anlage mit Holzhäusern im tradi­tionellen Stil, die oft nur zu einem Drittel belegt ist. Auch sein Restaurant hat – außer für besondere Feierlichkeiten – kaum Gäste. Zipak organisiert mehrmals im Jahr Musikfestivals mit Bands auch aus dem Ausland, um Leben nach Klewan zu bringen und der einheimischen Jugend etwas zu bieten. "Wen interessiert schon eine halbverfallene Festung oder ein altes Buch? Ein Vergnügungspark wie Disneyland muss her!"

"Jedes Mal, wenn die zerstörten Panzer vorbei­kommen, graust es mir"

Selbst "der romantischste Ort der Welt" kann die Realität nicht ganz ausblenden. Tief im Wald ist eine ukrainische Militärbasis versteckt, wo defekte Kettenfahrzeuge und Waffen repariert und wieder einsatzfähig gemacht werden. Auch sie nutzt den Tunnel der Liebe. Der Blätterwald soll ihre Transporte vor neugierigen Blicken schützen. Manche Ein­heimische behaupten sogar, dass der Tunnel nur wegen des Militärs so gut erhalten sei. ­"Jedes Mal, wenn die zerstörten Panzer hier vorbeikommen, graust es mir, und ich bekomme Gänsehaut", sagt Lesja. Sie hat für ihren Souvenirstand eigenhändig eine ukrainische Flagge mit den Wörtern "Mir" und "Peace" genäht: "Alles, was wir hier wirklich brauchen, ist Frieden. Und Liebe!"

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