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"In welcher Buchhandlung arbeitest du jetzt? Immer noch bei Offenberger?" Was soll man denn auch fragen, wenn man sich gut 30 Jahre nicht getroffen hat? "Neiiiin", entfuhr es Mathilde im besten Was-denkst-duuuu-denn?-Ton, also mit mildem Vorwurf und einem ebensolchen Lächeln. "Schon ewig nicht mehr. Ich mache jetzt, was ich schon immer wollte. Ich habe ein Keramik-Atelier in der Marktstraße." Schade. Ich hätte so gerne über Bücher mit ihr gesprochen. Aber sie spricht nicht mehr über Bücher. Nur noch über ihre "Art Keramik", was ich jetzt sicher schon falsch geschrieben habe. So, wie sie es ausspricht, klingt es nach "art ceramique".
Den ersten Fehler hatte ich gemacht, als ich zur Begrüßung "Hallo Matti" rief und mit einem strengen "Mathild! " korrigiert wurde - Mathilde auf Französisch.
Ich hätte sie nicht wiedererkannt. Man hat uns einander vorgestellt beim 60. eines gemeinsamen Bekannten. "Wir kennen uns doch! " Wirklich? Ein heiteres, ein wenig dralles, pausbäckiges Mädchen war Matti. Ein Jeanstyp mit T-Shirt im Sommer und Pulli im Winter. Die würdige Matrone, im design-veredelten Folklorekostüm mit Solarbräune, Botox-Lippen - sagte man mir, ich sehe so was nicht - und 30 Kilo mehr als früher, durfte man wirklich nicht mehr bei ihrem alten, kindlichen Namen rufen.
Keramik. Kunst. Töpfern? "Nee, so darfst du das nicht nennen, was ich tue. Mit Töpfern assoziiert man so altbackenes, alternatives Zeug! Was in meinem Atelier geschieht, ist absolute Avantgarde. Du musst mich mal besuchen. Du wirst erstaunt sein."
"Sich neu erfinden" klingt allemal kreativer.
"Ich habe mich neu erfunden", sagte Mathilde. Sie tat es ganz beiläufig. Das klang wirklich anders als bei Matti. Die hätte festgestellt: "Ich habe mich und meine Existenz neu definiert." Da stand sie noch in der Uni-Buchhandlung und verkaufte Fachbücher an Psychologen und Sozialwissenschaftler, die sie wahrscheinlich nicht gelesen, aber dennoch zu den Leitsternen ihres Seins gemacht hatte. "Sich neu erfinden" klingt allemal kreativer.
Mathildes Mann, Hanno, hatte sich nicht neu erfunden. Er war Techniker. Jetzt ist er im Ruhestand. Ein ruhiger Kerl. Damals wie heute. Nur: Als Matti sich den biererfahrenen und lebensernsten, den bodenständigen, ja gut: spießigen Typen angelte, fanden wir anderen das ein bisschen komisch. Nun sind sie Großeltern. Und ich frage mich eher, wie Hanno mit der Neuerfindung neben sich zurechtkommt.
Hanno stand während unseres Begrüßungsgeplänkels still dabei, manchmal verlegen grinsend, meistens ins Leere schauend. Ich wollte ihn einbeziehen. Wie geht es dem Sohn? "Ewiger Student", meldete Hanno knapp. Die Tochter? "Verheiratet, zwei Kinder, netter Mann, guter Job bei einer Versicherung." Und habt ihr immer noch einen Hund? Hannos Blick wurde wehmütig. "Nee", murmelte er. "Zuletzt hatten wir eine Golden-Retriever-Hündin. Sie wurde fast 15 Jahre alt. Am Ende hat sie sehr gelitten."
"Das brauchen wir nicht mehr", unterbrach Mathilde. "Dieses Tier hat unsere Energie gefressen. Schon als das anfing mit der Krankheit, da war die Hündin 13, habe ich zu Hanno gesagt: Ersparen wir uns und ihr das Leiden. Er wollte sich nicht trennen. Er ist mit ihr ständig beim Tierarzt gehockt, hat darauf geachtet, dass sie ihre Tabletten bekam. Der war eher mit dem Hund verheiratet als mit mir. Das brauchen wir nicht mehr."
Ich glaube immer noch, dass Mathildes "wir" eher das einer Majestät war, als der Ausdruck gemeinsamer Überzeugung. Hanno korrigierte nicht. Auch nicht, als die Künstlerin an seiner Seite das neue Leben lobte: "Aber seit Isadora - die Hündin - ihn nicht mehr belastet, hilft Hanno mir im Atelier. Er schleppt Material, räumt auf, sortiert - große Klasse." Und selbst künstlerisch arbeiten? "Ich bin keiner, der mit Ton kann. Eher mit Tönen. Du weißt ja, ich bin von Haus aus Jazzer. Posaune." - Blasen tut er nicht mehr. "Zu laut, da krieg ich Kopfschmerzen", stöhnte Mathilde. "So isses", knurrte Hanno nur - auch darin ganz der Alte.