Aber wer über den Tod hinaus verfügt, muss auch das Wohl der anderen im Auge haben
15.11.2010

"Versprich mir", sagt der Sterbende zu seiner Frau, "dass Michaela nicht zu meiner Beerdigung kommt." Vater und Tochter hatten seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. Michaela hatte die ständige Einmischung in ihr Leben satt. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen, hat nicht studiert, sondern eine Schreinerlehre gemacht. Als der Vater krank wurde, wollte sie ihn besuchen. Er hat strikt abgelehnt. Es ist für Michaela selbstverständlich, wenigstens an seinem Grab zu stehen. Die Mutter weiß nicht, was sie tun soll. Ihr Versprechen halten und die Tochter damit unglücklich machen? Es brechen und damit den Willen ihres Mannes gering schätzen? Es ist manchmal ein schmaler Grat, auf dem man sich bewegt, wenn man die letzten Wünsche Verstorbener berücksichtigen will.

Versprechen werden mit dem Tod nicht hinfällig 

Zum einen verdienen sie Respekt - so, wie man zu Lebzeiten eines Menschen seinen Willen auch respektieren muss, selbst, wenn es gelegentlich schwerfällt. Außerdem: Treu sollte man nicht nur dann sein, wenn man beobachtet wird. Versprechen werden nicht einfach hinfällig, bloß weil der, dem man sie gegeben hat, tot ist. Wenn sich die Großmutter einen Eichensarg mit schönen Beschlägen gewünscht hat, ist es schäbig, aus finanziellen Gründen stattdessen ein billiges Modell zu wählen. Warum soll die Cousine nicht mit "I did it my way" verabschiedet werden, wenn sie sich das neben Bach für ihre Beerdigung gewünscht hat? Der Stilmix muss den Trauergästen nicht gefallen - wichtig ist Verlässlichkeit gegenüber mündlich oder schriftlich festgehaltenen Anliegen derer, die gegangen sind.

Umgekehrt kann man Respekt, Treue und Verlässlichkeit aber auch von demjenigen erwarten, der seinen letzten Willen äußert. Es mag nach dem Vorbild vieler Filme eine amüsante Vorstellung sein, Angehörigen, Freunden und Kollegen nach dem eigenen Tod noch einmal deutlich zu machen, was man von ihnen hält - nämlich nichts. Aber so eine Retourkutsche, für die man die Folgen nicht mehr zu tragen hat, ist genauso armselig wie ein billiger Kranz statt der Arme voll Sonnenblumen, die sich der verstorbene Onkel erbeten hatte. Wer über seinen Tod hinaus Wünsche äußert, sollte nicht von Rache oder Bosheit getrieben auf den Gefühlen anderer herumtrampeln. Wer es doch tut, kann fest damit rechnen, dass die Zurückbleibenden sich dem nicht beugen - und zwar zu Recht. Niemand braucht sich von einem anderen demütigen zu lassen.

Man muss nicht auf Geheiß des Toten sich und andere quälen

Eheleute müssen nicht auf Geheiß des verstorbenen Partners sich selber und ihre Kinder quälen, indem sie ihnen etwa den Zugang zum Grab versagen. In einem solchen Fall ist es möglich, sich über Wünsche Verstorbener hinwegzusetzen - weil sie Lebende und ihre Seelenlage bewusst missachten. Am Kreuz hängend hat Jesus von Nazareth seine Mutter an den Lieblingsjünger Johannes verwiesen und diesen an seine Mutter. Die zwei sollten sich in ihrer Trauer stützen. Die Geschichte zeigt: Verfügungen über den Tod hinaus sind dann sinnvoll, wenn sie das Wohl der Hinterbleibenden im Auge haben. Man muss schon ein Herz haben für die, die man verlassen muss.

Zum anderen ist es gut, wenn in Überlegungen, was nach dem Tod sein soll, rechtzeitig alle einbezogen sind. Zumindest so, dass sie in Gedanken und in Gesprächen mit ihren Gefühlen, in ihrer Lebenssituation vorkommen, selbst wenn sie nicht persönlich anwesend sind. Vielleicht ist das die letzte Chance, sich doch zu versöhnen - oder wenigstens mit neuem Interesse einander zu begegnen und sich vor dem Tod vom Leben überraschen zu lassen.

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