Lena Uphoff
15.11.2010

"Eine gewisse Ordnung muss herrschen", pflegte unser Freibad-Schläger Roland zu sagen, ehe er einem badehosigen Jungen Prügel androhte, der seinen Stammplatz auf der Wiese neben den Kickerkästen belegt hatte, "sonst ist der Willkür Tür und Tor geöffnet." Und zu mir sprach er, nachdem ich ihn aus seiner Sicht unrechtmäßig lange betrachtet hatte: "Brummer, was glotzt du mich so an, hä? Suchst du Streit?"

Roland wusste nichts von Gewaltenteilung

Das Problem Rolands ­- besser gesagt, unser Problem mit Roland war, dass er nichts von Gewaltenteilung wusste oder sie vorsätzlich und gröblich missachtete. Er war gleichsam Gesetzgeber und Exekutive in einem. Er bestimmte, welche Ordnung zu herrschen hatte, und er setzte sie sofort mit breitbeinigem Imponiergehabe plus muskelbepackter Oberarme durch. Es war unser Problem, nicht Rolands. Der beseitigte die Probleme sofort. Auf seine Art. Eine gewisse Ordnung musste schließlich herrschen.

Roland war laut und fröhlich, solange seine Ordnung galt. Im Gegensatz zu seinem erheblich älteren Bruder Fritz hatte er das Gymnasium verlassen müssen und absolvierte eine Banklehre. Das machte ihm alle Gymnasiasten als angepasste Klugscheißer verdächtig. Fritz praktizierte in unserer Stadt als Rechtsanwalt, war bereits verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Der tauchte manchmal als Sozius auf Rolands Kreidler Florett mit im Strandbad auf. Onkel Roland kümmerte sich liebevoll um den Kleinen. Er kaufte ihm Eis und Süßigkeiten und übte mit ihm Schattenboxen: "Komm, hau dem Onkel auf den dummen Kopf! Du musst boxen lernen, damit du kein solches Gscheitle wirst wie dein Papa." Und dann schaute er in die Runde, fixierte uns mit seinem gefährlichsten Blick und posaunte über die Badewiese: "Wer dem Kind was tut, den bringe ich persönlich um. Eine gewisse Ordnung muss ja herrschen, sonst ist der Willkür Tür und Tor geöffnet." Griff zum Bier, rülpste und bekräftigte: "Verstanden, ja!"

Mein Vater hatte sein Konto bei eben jenem Kreditinstitut, in dem Roland lernte. Und ich musste ­ Geldautomaten gab es noch nicht ­ dort ab und an Geld holen. Als ich am Schalter zum ersten Mal auf Roland traf, war mir mulmig.

Roland war völlig der Umgebung angepasst. Er trug Schlips und weißes Hemd zum gedeckten Anzug. Und er begrüßte mich höflichst: "Hallo Arnd, was kann ich für dich tun?" Danke, bitte schön, danke, auf Wiedersehen. Der perfekte Dienstleister. Eingefügt in die Ordnung. "Willst du auch die Kontoauszüge mitnehmen?"

Im Churchclub, der Pfadfinderdisco

Am Abend drauf hämmerte er mir im Churchclub, der Pfadfinderdisco im Gemeindehaus, die Rechte auf den Solarplexus, "weil mit meiner Braut keiner ohne meine Erlaubnis Stehblues tanzt". Die Braut, meine Klassenkameradin Madeleine, wusste gar nicht, dass sie Rolands Mädel war. Und ich hatte sie bisher für meines gehalten. Wir Gymnasiasten flohen und fanden uns in der Bierkneipe Löhlinbad wieder, wo wir auf unsere Art Wunden leckten. "Klassischer Darwinismus", bilanzierte Freund Gereon. Ab diesem Tag nannten wir Roland nur "den Primaten".

Madeleine muss die Aktion imponiert haben. Ich sah sie künftig nur noch aus der Ferne. Mit Roland. Erst diesen Sommer, nach mehr als dreißig Jahren, lief sie mir auf dem Marktplatz in unserer Heimatstadt wieder über den Weg. Sie begrüßte mich herzlichst. Dann tauchte Roland auf, grau geworden, einen Kinderwagen schiebend. "Unser Enkel", erklärte Madeleine. Die Tochter studiere, sie kümmerten sich um den Kleinen. Roland? Baute sich vor dem Kinderwagen auf, grinste mich an und ging in Boxpositur: "Komm, hau dem Opa auf den dummen Kopf!" Und dann an mich gewandt: "Der wird auch mal so ein Gscheitle wie mein Bruder und du. Von mir hat er das nicht!" Ich hatte wieder die alte Muffe, als er ausholte. Aber diesmal hieb er mir nur freundschaftlich auf die Schulter: "Schön, dich zu sehen! Alles in Ordnung?"