Aber bringt es einen selbst und andere auch weiter?
15.11.2010

Wer spürt, dass er Schuld auf sich geladen hat, büßt nicht bloß Lebensfreude ein. Das Bewusstsein eigener Schuld kann einen so umtreiben, dass man davon krank wird. Aber Vorsicht: Schuld ist nicht das Gleiche wie Schuldgefühle. Da hat zum Beispiel jemand das Sterbebett des Vaters nur kurz verlassen, um etwas zu trinken zu holen. Ausgerechnet in diesem Moment stirbt der Vater. Zum Verzweifeln! Es dauert, bis man begreift: Der Vater konnte wohl nur so seine Kraft zusammennehmen, um zu gehen ­ weil er spürte, wie schwer es fällt, ihn loszulassen. Eine Frau wendet sich kurz zur Tür, weil es dort klingelt. Der kleine Sohn dreht sich blitzschnell Richtung Abgrund und fällt von der Wickelkommode ­ zum Glück, ohne Schaden zu nehmen. Nur die Vorwürfe von Mann und Großeltern verstummen nicht: Was da alles hätte passieren können!

Solche Schuldgefühle, so heftig sie einen auch überfallen, sind unberechtigt. Man sollte sich von ihnen befreien, wenn man sie, vielleicht mit Hilfe verständnisvoller anderer, betrachtet hat. Kein Mensch hat sein Leben und das anderer so in der Hand, dass er es vollkommen kontrollieren, den anderen auf allen Wegen beschützen könnte. Leben wie Sterben haben ihre eigene Dynamik. Zur eigenen Entlastung muss man sich manchmal sagen: Niemand ist allmächtig und allgegenwärtig. Allerdings gibt es ein Rumoren im eigenen Herzen, ein quälendes Bohren im Kopf, das untrüglich darauf hinweist, dass man schuldig geworden ist.

Schuld zu bekennen ist eine "reife Leistung"

Manch einer tratscht mit böser Zunge über eine Kollegin und stellt fest, dass ihr das schadet, weil Vorgesetzte den verleumderischen Gemeinheiten Glauben schenken. Jemand verursacht aus Leichtsinn einen Unfall, der einen anderen für immer die Gesundheit kostet. Eine Mutter will nicht wahrhaben, dass der eigene Mann oder der nette Nachbar sich an der Tochter vergeht. Sich solcher Schuld bewusst zu werden und sie vor anderen zu bekennen ist eine "reife Leistung" ­ denn es ist unsagbar schwer, erkennen zu müssen, dass man alles andere als der Held oder die Superfrau ist, die man so gern gewesen wäre, aber nie mehr sein wird. Es braucht Stärke, nicht nach faulen Ausreden zu suchen, sondern klar zu sagen: "Ich bin es gewesen. Das ist meine Schuld."

Wer Schuld annimmt, der weiß um seine Verantwortung. So ein Mensch besitzt ­ vielleicht erst spät, aber immerhin dann ­ die nötige Einsicht, kann spüren, wo eigenes Reden und Handeln andere verletzt hat. Gelegentlich sind sich Menschen unsicher, ob und welche Schuld sie sich aufgeladen haben. Sie merken aber am Verhalten, etwa von Eltern oder Kindern, dass etwas nicht stimmt, dass es eine massive Störung in der Beziehung gibt. Hier kann ein offenes Gespräch aufklären ­ im schlimmsten Fall muss man die Bereitschaft haben, das Schweigen des anderen zu respektieren. Kann sein, dass der andere Mensch sich so verstört fühlt, dass er den Kontakt unterbrechen muss. Oft braucht es Zeit, um erst einmal selber klarzukommen mit dem, was einem angetan wurde.

Mit Schuld kann man umgehen, wenn sie sich wieder gutmachen lässt ­ selten durch Entschädigung, eher durch ernst gemeinte Entschuldigung. Manchmal braucht es viele Gespräche und den Beistand Dritter, um eine Annäherung möglich zu machen. Es gibt allerdings Schuld, die ist durch nichts wieder gutzumachen. Gegen diese Tatsache hilft weder Verdrängung noch die irrige Auffassung, man dürfe nicht an der Vergangenheit kleben bleiben. Schuld wird man nicht los wie Müll, den man im Vorübergehen entsorgt. Sie folgt einem wie ein dunkler Schatten. Was tun, wenn man schuldig geworden ist und einem das Leben düster scheint, ohne Aussicht darauf, jemals wieder fröhlich sein zu können? Schuld verlangt nach Vergebung. Und die kann man sich nicht selbst zusprechen, genauso wenig wie Segen.

Vergebung wird einem gewährt von den Menschen, denen man etwas angetan hat. Sie kann einem auch zugesprochen werden von denen, die man reuevoll aufsucht: Wer sich schuldig weiß, kann sich Gott, einem Pfarrer, einer Pfarrerin anvertrauen. "Vergib uns unsere Schuld", heißt es im Vaterunser. Weg, vergangen, verjährt wird Schuld im eigenen Inneren nicht sein. Aber sie kann, endlich vergeben, ihren Platz in der eigenen Lebensgeschichte finden. Michelangelos Schöpfer berührt auf dem berühmten Gemälde in der Sixtinischen Kapelle mit seinem Zeigefinger den Finger Adams. Im Geschehen der Vergebung reicht er ­ bildlich gesprochen ­ dem Menschen für immer und ewig die ganze Hand. Da gibt's nichts zu zu feilschen, zu beschönigen oder zu verdammen. Da kann man getrost einschlagen...

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