Je länger die nationalsozialistische Diktatur andauerte, umso grimmiger blickte Martin Luther von Podesten und Reliefs auf die Deutschen herab. Ab 1935 gaben ihm die Bildhauer ein zunehmend grobschlächtiges Konterfei mit harten Gesichtszügen, mächtigen Schultern und kampfbereiter Körperhaltung. Die Nazis stilisierten den Wittenberger Mönch zum martialischen Vorkämpfer eines völkisch-geeinten Deutschlands. Mehr noch: In Hitler sahen die „Deutschen Christen“ einen zweiten Luther. Er werde die Reformation „vollenden“. Hitler selbst kündigte auf dem Nürnberger Reichsparteitag im September 1934 an, eine „Versöhnung der Konfessionen mit dem neuen Staat herbeizuführen“.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die meisten evangelischen Landeskirchen bereits selbst zu einer „Führerkirche“ gleichgeschaltet und einem Reichsbischof nach Hitlers Gnaden unterworfen. Die „Deutschen Christen“ bildeten in Synoden und Gemeindekirchenräten die Mehrheit und verstanden sich als „SA Jesu Christi“. So zeigt es die kleine, feine Ausstellung „‚Überall Luthers Worte‘ – Martin Luther im Nationalsozialismus“ in der Berliner Topographie des Terrors. Historiker der Topographie und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand haben die Schau erarbeitet.
Die Lutherfestspiele begannen 1933 mit dem 450. Geburtstag des Reformators. Vielerorts feierte man den „Luthergeist“ mit „Luthertagen“, „Lutherwochen“ und am 10. November reichsweit mit dem „Deutschen Luthertag“. Die Zeitungen – gerade auch die kirchlichen – bejubelten den Reformator als „deutschen Herkules“ und als „urdeutschen Charakter“. „Darin sind sich doch Luther und Hitler eins, dass sie sich beide zur Errettung ihres Volkes berufen wissen“, schrieb der Erlanger Theologe Hans Preuß. Luther und seine Schriften mussten für alles herhalten, für die „Furchtlosigkeit des deutschen Mannes“, für die „heldische Frömmigkeit“ und Opferbereitschaft der Deutschen, für die Gottgegebenheit der NS-Regierung – und für die „Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral“.
Luthers übles Traktat von 1543 diente als Begründung für die Ermordung der Juden
Luthers Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 wurde zigfach neu aufgelegt und diente als Begründung für die Vertreibung und Ermordung von Millionen Juden. „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen“, brüstete sich der thüringische Landesbischof Martin Sasse.
In den vergangenen Jahren wurde viel über Luthers Judenhass diskutiert, und kaum ein evangelischer Theologe spricht über die Reformation, ohne auf diese abgründige Seite hinzuweisen. Doch selten wurde so wie in dieser Ausstellung vorgeführt, in welch beklemmendem Ausmaß die evangelische Kirche vor 80 Jahren selbst die faschistische Zurichtung des Reformators betrieb.
Der Historiker Heinrich von Treitschke hatte zu Luthers 400. Geburtstag 1883 die Linie vorgegeben: Mit Luthers Kampf gegen die „welsche“ römische Kirche habe der Aufstieg der deutschen Nation begonnen, und sie gipfele im preußisch geprägten Kaiserreich, in dem sich Katholiken, Sozialisten und Juden dem protestantischen Führungsanspruch unterzuordnen hatten. Diesem Geschichtsbild schlossen sich führende Theologen wie der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker an und leiteten aus Luthers Antijudaismus einen völkisch-rassistischen Antisemitismus ab.
In den 1920er Jahren waren beide Bilder des nationalen Luther eng miteinander verflochten: der national-konservative Luther, dem der Reichspräsident und „Sieger von Tannenberg“ Paul von Hindenburg angeblich glich, und der antisemitisch-völkische Luther, „dessen Schriften den Deutschen helfen sollten, sich vom Judentum zu befreien“, schreibt der Kieler Theologe Hartmut Lehmann im sehr aufschlussreichen Ausstellungskatalog.
Zehn Jahre später war es für evangelische Theologen nur ein kleiner Schritt, in Luthers Zwei-Reiche-Lehre die Rechtfertigung für einen totalitären Staat zu sehen und aus seinem Prinzip des Priestertums aller Getauften die Forderung herzuleiten, das deutsche Volk müsse aus sich selbst heraus souverän sein und alles „Undeutsche“ ausmerzen.
Auch die Gegner der „Deutschen Christen“ sind der engen Verzahnung von Religion und Politik in der Stilisierung Martin Luthers zum Nationalhelden nicht ganz entkommen. Der Antisemitismusforscher und Generalsekretär der Evangelischen Akademien Klaus Holz hat vergangenes Jahr darauf hingewiesen, dass auch der Historiker Gerhard Ritter, Mitglied in der „Bekennenden Kirche“, die Ansicht vertrat, dass nur, wer Luthers „Blutes und Geistes ist, ihn aus der Tiefe seines Wesens versteht“. Der Theologe und religiöse Sozialist Paul Tillich habe daran lediglich kritisiert, man müsse „in noch tieferer Schicht als der germanisch-religiösen“ forschen, um Luther als Propheten Gottes ganz erfassen zu können.
Dieses große Kapitel der Schuldgeschichte ist im diesjährigen Reformationsjubiläumsreigen bisher weitgehend unerwähnt geblieben. Deshalb hätte man sich diese Ausstellung über „Luthers Worte“ größer und an einem für die evangelische Erinnerungskultur zentralen Ort gewünscht. Die Vergangenheit zeigt, wie gefährlich die Annäherung von Kirche und Politik ist. An diese Lehre sollte sich die evangelische Kirche gerade in diesem Jubiläumsjahr erinnern, in dem sie in trauter Gemeinsamkeit mit der Bundesregierung Luthers Reformation gedenkt.
„‚Überall Luthers Worte ..‘ – Martin Luther im Nationalsozialismus“, bis 5. November im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors (Niederkirchnerstr. 8, Berlin), täglich von 10 bis 20 Uhr.
Der Titel erinnert an ein Bonhoeffer-Wort von 1937: „Überall Luthers Worte und doch aus der Wahrheit in Selbstbetrug verkehrt“. topographie.de