Nach einem Schiffbruch finden sich zwei Menschen in Wasser treibend wieder. Sie halten sich an derselben Holzplanke fest, um nicht zu ertrinken. Die allerdings hält auf die Dauer nur einen über Wasser. Was tun? Wer soll zugunsten des anderen auf sein Leben verzichten? Etwa der, der für die Gesellschaft von geringerem Nutzen ist? Ist die Nächstenliebe so groß, dass er sich für den anderen opfert?
Mehr als 1500 Jahre später spukte diese Geschichte des römischen Philosophen Cicero immer noch durch die Köpfe. Diesmal durch den von Philipp Melanchthon, der darüber 1521 in seinem Buch „Grundbegriffe der Theologie“ schrieb. Dem tief in der Bibel verwurzelten Lutherfreund in Wittenberg liegen solche abstrakten Knobeleien überhaupt nicht. „Bleib mir fern mit solchen verrückten Fragen, deren Beispiele in wirklichen menschlichen Lebenserfahrungen kaum vorkommen“, schreibt er.
Die Befreiungsbotschaft der Reformatoren
Das wirkliche Leben hatte zu dieser Zeit tatsächlich eher mit Hunger und Pestgefahr, mit Ausbeutung und Krieg zu tun. Und mit den Ablasspredigern, die den Menschen die Hölle ankündigten, aber Erlösung gegen Geld versprachen. Die Entdeckung der Reformatoren war: Gott ist nicht strafbesessen, sondern barmherzig und voller Menschenliebe. Er fragt nicht nach Ablasszetteln, so wenig wie nach dem Leistungsvermögen der Menschen. Das war eine fundamentale, wirkliche Befreiungsbotschaft - alles andere als versponnene Spekulationen, wie sie mittelalterliche Theologieprofessoren (und antike Philosophen) so liebten.
Der Reformator Philipp Melanchthon hat eine einfache, klare Ansicht. „Aus der Liebe zu Gott erwächst die Liebe zum Nächsten“, schreibt er. Die Reihenfolge ist also so: Zu glauben bedeutet, die Barmherzigkeit, die Liebe Gottes ergreifen. Wer das tut, „kann dann nicht anders, als Gott auch zu lieben“. Aus der Liebe zu Gott folgt die Liebe zum Nächsten. In diesem Sinn, und nur in diesem Sinn, sagt Melanchthon den merkwürdigen Satz: „Wir ziehen den Glauben der Liebe vor.“ Der Glaube ist also eine wichtige Ursache der Liebe. Melanchthon sagt aber nicht: Nur wer glaubt, kann seine Mitmenschen lieben. Nein, man muss Gott nicht lieben, um die Menschen zu lieben – wenn beides auch sinnvoll und empfehlenswert ist. Aber Fakt ist: Viele Menschen, die mit dem Glauben nichts anfangen können, engagieren sich liebevoll für andere. Und manche, die sich zu den Glaubenden rechnen, sind vielleicht gar nicht so liebevoll und engagiert.
"Zuerst die Seelen lieben, dann die Leiber"
Aber wie liebt man richtig - nach den Auffassungen des Philipp Melanchthon? Was meint er mit seiner Bemerkung (im Kapitel „Die Liebe“ seines Buches): „Wir geben in der Regel den Belangen der Seele den Vorzug vor den Bedürfnissen des Leibes“? Erst die geistige Liebe, dann die sexuelle Lust? Ja, da ist er tatsächlich auf der Linie des Kirchenvaters Augustinus (354 – 430): „Zuerst sollen wir die Seelen, dann erst die Leiber lieben.“
Und wen sollte man lieben? Auch hier zitiert Melanchthon Augustinus: Zuerst die unseren, dann die Fremden. Und er bringt das oft missverstandene Zitat aus dem Galaterbrief des Paulus: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (Galater 6,10). Deutsche, denen die Zuwanderung von Flüchtlingen missfällt, führen dieses Zitat gern an, um zu fordern: Christen sollen sich zuerst um Christen kümmern, dann um muslimische Flüchtlinge. Das allerdings ist eine ideologische Bibelinterpretation.
Man muss wissen: Der Galaterbrief ist der am schärfsten formulierte Brief aus der Feder des Paulus, ein Brandbrief angesichts heftiger Auseinandersetzungen in der Gemeinde. Es gab einen Riesenkonflikt zwischen den (beschnittenen) Juden und den (unbeschnittenen) Nichtjuden. Und ein zurückliegender Konzilsbeschluss, dass sich niemand mehr, der Christ werden will, beschneiden lassen muss, wurde von manchen in der Gemeinde wieder infrage gestellt. Nur angesichts dieser heftigen Streitereien mahnte Paulus, sich aufmerksam um alle in der Gemeinde zu kümmern - eine Strategie zur Deeskalation, keine Ausgrenzung von Fremden. Also gerade eine Mahnung zur Integration.
Liebe, Liebe, Liebelei
Bei der ganzen Vorschriftensammlung, wer wen zuerst zu lieben hat, wurde die wichtigste Liebe zu einer „Seele“ von allen Weisen vergessen: Die Liebe zu sich selbst. Jeder kann andere (Menschen/Gott) nur in dem Umfang lieben, wie er/sie sich selbst liebt. Die Diffamierung der Selbstliebe durch die Kirche hat ja eine jahrhundertlange Tradition. Noch heute nennen viele das Dreifachgebot der Liebe ein Doppelgebot. Und das nicht aus Rechenschwäche.
Gott zu lieben, ist ja so eine Sache (nicht wegen der Liebesreihenfolge). Gott/Jesus wird uns nach der Bibel alle vor Gericht stellen (Ermittler, Richter, Henker sind dabei eine Person) mit der nicht unwahrscheinlichen Option, der Einweisung in ein ewiges Folter-KZ. Wer kann einen solchen Vollzugsbeamten der Stasi lieben? Luther sagte ja: „fürchte Gott, liebe Gott, vertraue Gott“. Die Psychologie nennt das Double Bind. Und Double Bind macht psychisch krank. Wikipedia klärt da auf.
Solange Gott eine Hölle betreibt (selbst wenn sie leer sein sollte, die Absicht allein ist ausreichend monströs) kann ER nicht geliebt werden. Wer es trotzdem tut, muss fast die ganze Bibel als nicht zutreffend betrachten. Die Kirche versucht es ja mit dieser Verdrängung: Seit 55 Jahren hörte ich keine Höllenpredigt mehr. Doch das ist einfach nur nicht aufrichtig. Es bessert nichts. Bei jedem Bibellesen (ohne Scheuklappen) ist alles Sadistische wieder da.
Ich liebe Gott, meinen Freund, weil ich weiß, die Bibeltexte aus der Bronzezeit und Antike vermitteln nicht Wissen über göttliche Vollstreckungsverfahren, sondern reflektieren das damals einzig bekannte Herrschaftsgebaren eines orientalischen Despoten: Wie auf Erden, so im Himmel.
In dem Artikel wird außerdem die sexuelle Lust mit Liebe gleichgesetzt. Sex ist Verlangen (begehren, haben wollen) und nur in Einzelfällen Liebe (geben wollen, nicht nehmen). Aber ich will nicht zuviel meckern.
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Gott, mein Freund?
Wo haben Sie denn das her mit Gott als Freund? Das klingt verdächtig nach: "Die Polizei, dein Freund und Helfer!".
In früheren Herrschaftsverhältnissen durften die Untertanen durchaus klar sehen und wissen, dass sie den Stammeshäuptlingen, Herzögen, Kaisern und wer grad dran war, unterworfen waren. Einleuchtend, dass Gott dann auch Klartext reden durfte und die falschen Fuchzger in die Hölle steckte. So weit, so schlecht.
In der heutigen Demokratie sind die Untertanen verpflichtet, die Herrschaft nicht mehr als das zu sehen, was sie ist, nämlich stinknormale Herrschaft wie früher auch, aber eben nicht mehr göttlich oder dynastisch legitimiert, sondern durch Wahl. Statt dessen soll der Bürger die Regierung auffassen als Wohltäterin der Staatsinsassen, die bisweilen patzt und dann eben nach der nächsten Wahl durch eine andere Regierung ersetzt werden kann. Diese ideologische Vorstellung färbt selbstverständlich auch ab auf die Glaubenswelt. Gott ist jetzt auch nicht mehr fragloser transzendentaler Herrscher, sondern mindestens so vertrauens- und liebenswert wie eine moderne Regierung, die doch nur die vom Volke ausgehende Gewalt managt.
Ist dieser Irrtum besser auszuhalten als der frühere?
Thea Schmid
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Gott ist nicht barmherzig
Die Entdeckung der Reformatoren war: “Gott ist nicht strafbessesen sondern barmherzig und voller Menschenliebe” behauptet Eduard Kopp. Gottseidank, möchte man sagen, haben wir ein paar empirische Daten zum Thema. Danach kann leider keine Rede davon sein, dass Gott barmherzig ist. Oder wieso sterben sonst jährlich Millionen von Kindern noch bevor sie sündigen können? Leiden Millionen von Christen, die trotz ihrer Gottesliebe von Tod, Krankheit und anderem Pech verfolgt werden? Seien wir doch einfach ehrlich: Gott scheinen die Menschen ziemlich egal zu sein. Wer nicht hilft, wenn er helfen kann, trägt mit Schuld. Gottes Barmherzigkeit ist schon lange empirisch widerlegt, auch wenn das dem Durchschnittschristen nicht in den Kram passt.
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