Andenken an die "in Deutsch-Südwestafrika Gefallenen". Ins Plexiglas graviert: ein Bericht über den verzweifelten Überlebenskampf der Herero
Andenken an die "in Deutsch-Südwestafrika Gefallenen". Ins Plexiglas graviert: ein Bericht über den verzweifelten Überlebenskampf der Herero
Cindi Jacobs
Das Helden-Tamtam ist abgeschafft
In der alten Garnisonkirche der Marinestadt Wilhelmshaven erinnert man sich heute an die ganze Geschichte, nicht nur die soldatische. Im Juni bekommt die Gemeinde einen Preis – für ihre Gedenkgottesdienste
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
12.06.2017

Als Frank Morgenstern 1994 seine erste Pfarrstelle antreten sollte, wunderte er sich sehr. Er hatte doch nun wirklich klargestellt, wo er stand – den Kriegsdienst verweigert, obwohl Theologiestudenten sowieso keinen Dienst an der Waffe leisten mussten. Und nun wollte der Oberkirchenrat ausgerechnet ihn als Pfarrer an der Christus- und ­Garnisonkirche in Wilhelmshaven haben: einer Kirche mit marmornen Gedenktafeln für Soldaten, mit riesigen Kommandoflaggen im Hauptschiff und Rettungsringen an den Wänden, mit einem Altarbild zur Erinnerung an die Skagerrakschlacht und der Grabstätte eines unbekannten Seemanns gleich neben dem Altar.

Die Flaggen abhängen und die Garnisonkirche zu einem zivilen Gotteshaus umgestalten – geht gar nicht, hieß es damals. Steht alles unter Denkmalschutz! Morgen­stern blieb dennoch. Und statt sich selbst die Hörner am schwülstigen Heldentamtam abzustoßen, stieß er sehr beharrlich dessen Hörner ab. Im Laufe der Jahre kamen weitere ehemalige Zivildienstleistende als Pfarrerskollegen dazu.

Heute ist aus der Kirche der militärischen Traditionspflege ein Ort des Erinnerns geworden, an die Toten sinnloser Schlachten. Auch an die anderen, die der Kolonial- und Kriegspolitik von Kaiserreich und NS-Regime zum Opfer fielen. Und mehr noch: Die Pfarrer der Christus- und Garnisonkirche gehen raus in die Stadt und spüren weitere Orte auf, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Orte, an denen sich Denkwürdiges ereignet hat.

Mit ihren Andachten werde Wilhelms­haven "gottesdienstlich kartographiert"

Montagabend nach Palmsonntag. Fast 200 Wilhelms­havener versammeln sich in der Parkstraße. Die Puttenfiguren überm Eingang der Hausnummer 16 sind Skulpturen von Josefa Egberts. Dies war ihr Elternhaus. Die Künstlerin war angeblich geisteskrank. Die Nazis ermordeten sie 1941.

Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz beobachtet die Entwicklung an der Christus- und Garnisonkirche schon seit den 1990er Jahren.
„Es gibt Geschichten, die müssen erzählt werden“, sagt eine Museumsleiterin und erzählt von Josefa Egberts Leben. Eine Lektorin liest aus der biblischen Passionsgeschichte, Schauspieler von der Landesbühne singen ­Kreisler-Lieder, Morgenstern hält eine Ansprache, die Leute singen und beten.

„Passionspunkte“ nennen die Pas­toren der Christus- und Garnisonkirche ihre Andachten in der Woche vor Ostern, in denen sie schon seit 17 Jahren an vergangenes Leid an vielen Orten der Stadt erinnern. Kirchengemeinden bundesweit machen diese Form des Gedenkens nach. Und die Karl-Bernhard-Ritter-Stiftung zur Förderung ­des Gottesdienstes wird der Wilhelmshavener Gemeinde Mitte Juni einen Preis verleihen: Mit ihren Andachten werde Wilhelms­haven „gottesdienstlich kartographiert“, schrieb die Jury.

Ehrengäste waren zwei Admirale Hitlers

Schon 1997 war ein zweiter ehemaliger Zivildienstleistender als Pfarrer in die Gemeinde gekommen. Den Pastoren war klar: Irgendwas musste mit dem historischen Raum der Christus- und Garnisonkirche geschehen.

Zuerst verhängte der 1942 in Wilhelms­haven geborene Künstler Uwe Appold die marmornen Ehrentafeln an den Seitenwänden der Kirche – Tafeln für gefallene und ertrunkene Marinesoldaten. Es war eine
umstrittene Aktion. Appold hatte als Jugendlicher das Heldengedenken als Domäne der Unbelehrbaren erlebt. Damals, 1957, wurde in der Christus- und Garnisonkirche ein Mahnmal für den unbekannten Soldaten eingeweiht. Als Ehrengäste dabei: Hitlers Admirale Erich Raeder und Karl Dönitz, beide waren in Nürnberg verurteilte Kriegsverbrecher und gerade aus der Haft entlassen.

Am 1. September 1999 lasen hundert Wilhelmshavenerinnen und Wilhelmshavener von morgens 5.45 Uhr bis Mitternacht in der Kirche aus Feldpostbriefen vor. Ver­treter der Stadt eröffneten den Lesemarathon, der an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnern sollte. Den ganzen Tag über kamen und gingen Zuhörer.

Die denkmalgeschützten Kriegsflaggen verschwanden nach der Expo 2000 aus der Kirche. Sie drohten sich aufzulösen und mussten zur Res­tauratorin. Eine einzige hängt jetzt auf der Empore im Südschiff; die anderen sind nicht mehr zu retten.

Marinesoldaten waren gegen das Herero-Denkmal

Ein zweiter Lesemarathon folgte am 8. Mai 2005: Er­innerungen von 80 Wilhelmshavenern an ihr Kriegs­ende sechzig Jahre zuvor, alle in zufälliger Folge. Auf den Bericht der BDM-Führerin folgte der eines früheren Häftlings. Wieder strömten die Menschen. Inzwischen war die Christus- und Garnisonkirche zu einem der wichtigsten Gedenk­orte der Stadt avanciert.

Cindi Jacobs

Cindi Jacobs hat lange beschäftigt, dass tat­sächlich auf dem Friedhof ein Soldat ausge­graben wurde, um den Leichnam in die Kirchengruft zu legen.
Ebenfalls 2005 beschloss der Gemeindeausschuss, über die Gedenktafel „für die Gefallenen der Kriege in Deutsch-Südwestafrika“ eine Plexiglastafel anzubringen, die an das Leid der Herero erinnert, ihre Opfer. „Manchmal kommen Leute und wollen den alten Zustand zurückhaben, sehen aber nicht, dass jede Generation an dieser Kirche mitgewirkt hat“, sagt Morgenstern. Einmal führte er eine Gruppe ehemaliger Marinesoldaten durch den Raum. Als sie das Herero-Denkmal sahen, begannen sie wild auf den Pfarrer einzureden. Der Pfarrer brachte die Führung möglichst sachlich zu Ende. Am nächsten Tag standen vier aus der Gruppe vor seiner Tür und baten um Entschuldigung. Ihre Ausfälle, das seien alte Reflexe. Nazis hätten sie bei der Marine ausgebildet und geprägt.  

Ende 2005 regte der Leiter der Kunsthalle Wilhelms­haven einen Bildtausch mit der Kirche an. Vom zweiten Advent bis Ende Januar 2006 hing das Altarbild der ­Christus- und Garnisonkirche in der Kunsthalle: Sonnenuntergang über der stillen See nach der Schlacht von Skagerrak. Und ein Schüttbild des Künstlers Hermann Nitsch hing überm Altar: Blut vom Schlachthof, auf einer Leinwand ausgegossen und verspritzt. „Unser Altarbild zeigt die Oberfläche, das Schüttbild führt runter an den Grund des Meeres“, sagt Morgenstern. „Wir hatten alle Weihnachtsgottesdienste damit. Noch heute kommen Leute und sagen:
‚Sie haben ja wieder das alte Altarbild.‘ Dabei war von ­Anfang an klar: Das kommt nur vorübergehend weg.“

Verurteilte Kriegsverbrecher waren zur Einweihung eingeladen

Seit einer Kirchenrenovierung 2011 erzählt eine Ausstellung auf der Empore die Geschichte der Kirche. Und kürzlich haben das Deutsche Marinemuseum und die Christus- und Garnisonkirche die Ausstellung „Mit Schwert und Talar“ eröffnet. Sie porträtiert drei Pfarrer, die im Laufe ihres Lebens mit Wilhelmshaven in Berührung kamen. Martin Niemöller, später Hitlerverehrer und zugleich Widerstandskämpfer, kam im Ersten Weltkrieg als U-Boot-Kommandant in die Stadt. Ludwig Müller, Reichsbischof unter Hitler, war seit Anfang des Ers­ten Weltkriegs bis Mitte der 20er Jahre Pastor der Kirche. Pfarrer Friedrich Ronneberger war ab 1915 die prägende Gestalt der Wilhelmshavener Garnisongemeinde.

Für die Ausstellung haben der Chef des Marinemu­seums und Morgenstern die Geschichte des Mahnmals für den unbekannten Soldaten aufgearbeitet. Ronne­berger hatte es nach seiner Pensionierung durchgesetzt und zur Einweihung verurteilte Kriegsverbrecher eingeladen. Erst wollte er den im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichter ­Johann Wilhelm Kinau (bekannt als Gorch Fock) in die Gruft umbetten lassen. Aber dessen Familie sperrte sich. Also ließ er einen unbekannten Soldaten vom Friedhof exhumieren. Dagegen konnte sich keiner wehren.

Die Ausstellung wird am Reformationstag enden. An dem Tag wird die Vierung der Kirche mit Worten aus dem Gästebuch der Kirche eingekleidet: „Hallo, lieber Gott! Schade, dass niemand von den Toten mit uns reden kann.“ Und: „Heute besuche ich mit meiner kleinen Enkelin ­diese wunderbare Kirche. Wir sind beide gerührt. Sie spricht ihr erstes Gebet.“

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