In Triest ist es umgekehrt als sonstwo an der italienischen Adria. Dort geht die Sonne über dem Meer auf und zwischen den Hügeln des Apennins unter. Hier aber, in Triest, das an der Grenze zu Slowenien liegt, steigt sie über dem Karst auf und sinkt abends in das Meer. Die Triestiner und alle ihre Besucher betrachten das Spektakel Abend für Abend. Sehr gut geeignet dafür ist der alte Hafenkai direkt beim Stadtzentrum. Dort treffen sich alle schon vor Sonnenuntergang, die Alten schlurfen Arm in Arm auf und ab, die Kinder rennen, die Studenten setzen sich mit Pizza und Gitarren ans Wasser. Wenn die Sonne untergeht, halten alle inne wie zum letzten Geleit.
Ich war dort Studentin im Austausch. Und vom ersten Tag an bin auch ich zum Hafenkai gegangen, Abend für Abend.
Jedes Mal nimmt die Sonne andere Farben mit, wenn sie versinkt. Manchmal taucht sie ab, manchmal ertrinkt sie oder verblasst oder erstirbt. Es ist jedes Mal anders. Anderes wiederholt sich. Zum Beispiel der Moment, in dem die Fenster der Promenadenhäuser das Sonnenlicht spiegeln.
Irgendwann habe ich die kleine Postkartenpoesie geschrieben. Wenn ich sie lese, habe ich wieder den Salzgeruch in der Nase und den Jasmin, der von der Promenade her duftet. In den Ohren habe ich die Wellen, wie sie kaum hörbar gegen die muschelbewachsenen Kaiwände schwappen. Immer brummt irgendein Motorboot in der Ferne.
Ich höre die italienischen Worte von trockenen Greisenstimmen, die rufenden Kinder, das heisere Lachen italienischer Frauen. Ich höre das Gitarrengezupfe der Studenten. Ich spüre, wie der Steinboden noch Wärme vom Tag abgibt und erinnere mich, wie plötzlich die Fenster der Promenadenhäuser im allerletzten Sonnenstrahl aufglänzen, wenn die Sonne gerade im Meer versunken ist und über dem Karst die Nacht auf die Stadt wartet.
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit dieser allabendlichen Szene, ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr!