Museo Nacional del Prado
Küss mich!
Mangamädchen, Aliens und Androiden, alles brandneu? Nein: Der niederländische Maler Hieronymus Bosch, dessen 500. Todestag in diesem Jahr gefeiert wird, hat auch schon ordentlich gemischt, gepuzzelt und gekreuzt. Unsere Autorin Sabine Horst findet erstaunliche Parallelen in der Popkultur
Lena Uphoff
24.06.2016

Ein weißer Mann und eine schwarze Frau sehen sich in die Augen, offenbar im Begriff, sich zu küssen. Die beiden sind paradiesisch nackt und völlig entspannt im Hier und Jetzt. Neben ihnen zwei riesige Singvögel, die unverwandt ins Weite starren. Rätselhaft. Das ist, ganz klar, ein Motiv von Hieronymus Bosch. Ich bin aber nicht im Museum, sondern auf einer Gartenparty. Und der "Bosch" prangt auf der iPhone-Hülle einer Freundin.

Eine Kurzumfrage zwischen Grill und Pool ergibt einen beachtlichen Informationsstand. Bosch – das war der mit den Monstern, gruselig. Spätmittelalter, Reformation, irgendwie dazwischen. Ein Vorläufer der Surrealisten. Psychedelisch, wie ein Trip, meint ein Bekannter, der mal ein Jahr Nieder­landistik studiert und in Amsterdamer Kneipen herumgehangen hat. Fast alle kennen Bosch – aber nicht im Original, sondern von Reproduktionen. Er hat bloß zwei Dutzend Gemälde hinterlassen, und die sind über die Welt verstreut; der "Garten der Lüste", aus dem die Vögel auf der Smart­phone-Hülle stammen, hängt im Prado.

Die Deutungen reichen von "Ketzer" bis "tiefgläubig"

Was immer Sie über Bosch denken: Es kann nicht so falsch sein. Ange­nehm ist schon mal, dass er sein Werk ohne Beipackzettel ausgeliefert hat; es gibt keine Briefe, keine Tagebücher, nur amtliche Dokumente. An der ­Zuschreibung seiner Bilder wird gearbeitet, seit die Kunsthistoriker über Techniken wie die Dendrochrono­logie verfügen, die das Alter der Holztafeln ermittelt, auf die er gemalt hat; der Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Die Deutungen reichen von "Ketzer" bis "tiefgläubig", von entgrenzt bis hochmoralisch. Es gibt ­Verschwörungstheorien – "der konnte so radikal malen, weil er ­einer Loge angehörte", sagt mir auf der ­Party ­einer, der sich in der Kunstszene auskennt –, aber auch Inter­preten, die Bosch komplett im Zeitgeist aufgehen lassen und jedes Bilddetail auf eine literarische oder malerische Vorlage zurückzuführen wissen. Spätestens an den saftigen Erdbeeren, die im Mittelteil des berühmten Triptychons "Der Garten der Lüste" in jeder Bild­ecke gegessen oder umtanzt werden, scheitern die meisten. Sind sie das Symbol für die Flüchtigkeit jedes irdischen Genusses? Kommen wir wie die gequälten Menschen auf der rechten Tafel in die Hölle, wenn wir uns die schmecken lassen? Ich glaube ja, Bosch war der erste Beatle und wollte uns was in der Richtung sagen: Kommt, ich nehm euch mit, denn ich gehe zu den Strawberry Fields. Wo nichts wirklich ist und sich alles schon irgendwie regelt . . . "Strawberry Fields Forever".

Die Zeitgenossen haben die reli­giösen Motive und konkret sozial­kritischen Details von Boschs Bildern bestimmt besser verstanden als wir heute, da muss man sich nichts vormachen. Im Jubiläumsjahr, in dem sich das schmale Erbe an Bildern und Zeichnungen in einer großen Schau – gerade in Madrid – vereinigt, wird jedoch sichtbar, wie tief der Bosch-Code in die Kultur eingesickert ist. Nicht, dass moderne Künstler sich offensiv an ihm orientiert, sich bei ihm "bedient" hätten. Salvador Dalí etwa, eigentlich der erste Verdächtige in diesem Zusammenhang, distanzierte sich von Boschs Werk – ein "Produkt der schrecklichen Verdauungsstörungen des Mittelalters". Und dass der Niederländer eine Ausnahmeerscheinung, ein "Break" in der Kunstgeschichte war, ist unumstritten. Es gibt aber Strukturen und Themen in Boschs Werk, die über seine Zeit, das ausgehende 15. Jahrhundert, hinausweisen und jetzt erst richtig hervortreten: Die Welt, in der wir heute leben, war damals im Entstehen.

Akribisch gemalte Foltertechniken

Mischwesen heute

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Street-Art: In der Altstadt von Neapel läuft dieses getigerte Schnabeltier über eine Wand
Das ist zunächst ein bisschen beunruhigend, denn Bosch ist als "Höllenmaler" bekannt, schon rein quadratmetermäßig nimmt das Fegefeuer viel Raum bei ihm ein. Meine erste Begegnung mit Bosch fand im Amsterdamer Wachsfigurenkabinett "Madame Tussauds" statt. Ich erinnere mich an die Figur – was mir heute komisch vorkommt: Niemand weiß, wie er ausgesehen hat – und ein paar reproduzierte Bilder auf riesigen Stellwänden. Pubertätsbedingt war ich etwas ungünstig drauf, und was mich am meisten beeindruckte, waren die quälenden Szenen: die Akribie, mit der da mechanische, beinahe industriell wirkende Foltertechniken an verbo­ge­nen Körpern vorgeführt wurden. Später kaufte ein Freund einen der ersten ­Videorekorder, und das neue Horrorkino platzte in unsere Wohnzimmer. Zombies, Kettensägenmassaker, schleimige Parasiten. In den Filmen von George A. Romero, ­Tobe Hooper und David ­Cronenberg fraß die Konsumgesellschaft ihre Kinder – so buchstäblich, wie die Menschen bei Bosch von merkwürdigen Tieren gefressen wurden.

Die Bosch-Splatter-Verbindung ist, glaube ich, kein ganz zufälliges Produkt meiner durchgeknallten Synapsen gewesen. Kaum ein anderer Maler hat nach ihm so sinnlich und drastisch die physische Folter visualisiert. Im Gegenteil, die Hochkultur verdrängte genau diese Bilder im Laufe der folgenden Jahrhunderte; sie wurden tabuisiert, am gründlichsten bei den Nazis, die nur helle und "heile" Menschen dargestellt haben, während sie die Welt in ein Beinhaus verwandelten. Erst die modernen Medien haben die explizite Darstellung der Tortur wieder popularisiert. Heute rechnen nicht bloß ausgesprochene Horrorfans, sondern auch Anhänger gefeierter Fernsehserien wie "Game of Thrones" oder "The Walking Dead" ­jeden Abend mit zertretenen Köpfen und abgetrennten Genitalien.

Die Grenzen zum Traum sind fließend

Unser Fernsehen, unsere Pop­kultur zieht es unaufhaltsam ins Apokalyptische. Während Bosch, der Apokalyptiker, vielleicht nicht so weit weg von der Wirklichkeit war. Der Kunsthis­toriker Hans ­Belting macht darauf aufmerksam, dass die Landschaft im Höllen­paneel des "Gartens der Lüs­te" keine natürliche ist, sondern von Menschen gestaltet und durch Krieg verunstaltet: brennende Häuser, gepanzerte Heere, ­Züge nackter, verängstigter Flüchtlinge. "Sieht nicht aus wie die Hölle", sagt mein Sohn im spontanen Bosch-Test, "sieht aus wie die Welt in 20 Jahren."

Mischwesen heute

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Der Mutant mit den Engelsflügeln tritt in X-Men-Comics und -Filmen auf, aktuell  in der Folge „Apocalypse“.
Boschs Alpträume haben indes auch ihre verführerischen Züge, und die Grenzen zum Traum sind fließend: Ich komme jetzt mal zu den guten Nachrichten. Die Dämonen in seinen Bildern, die oft selbst von den körperlichen Verunstaltungen betroffen sind, die sie bei anderen anrichten, sind nicht nur abstoßend, sondern auf eine hinreißende Weise in ihre Arbeit versunken; sie sind im Flow. Die "Sünder" und Gefallenen scheinen oft gar nicht unglücklich zu ­sein in den klauenbewehrten Armen finsterer Mächte. Schließlich wirken die Vielfalt, die irre Fantasie der Formen und Farben im "Heuwagen"-Triptychon, in der "Versuchung des heiligen Antonius" oder dem "Garten der Lüste" per se reizvoll. Zur Vita­lität seiner Arbeiten, die ich jetzt endlich doch noch im Original ge­sehen habe, trägt auch die damals unübliche Technik bei – Bosch hat Nass-in-Nass gemalt, das muss schnell gehen; für erlesenen Perlenschimmer, fotorealistische Faltenwürfe hat er sich nicht interessiert. Selbst die Zeitge­nossen, die nicht wissen konnten, dass irgendwann mal Leute in einem Ding namens Internet nach "Monstersex" suchen würden (ja, das gibt’s: animierte Erotik-Clips mit Tentakeln), dürften diese bizarren Wimmelbilder "künst­lerisch ‚interessant‘" gefunden haben, so der Bosch-Kenner Stefan Fischer.

Enten mit Trompetenköpfen

Der Schlüssel zu Bosch ist unser Mode­wort "hybrid": für das Vermischte, Gekreuzte, Bastardisierte. Hortensien können hybrid sein und Autos, aber auch ganze Gesellschaften. Und der moderne Mensch ist ein Mischwesen aus Natur und Technik – schon mal drüber nachgedacht, wo Sie ohne die neue Hüfte und die Zahnimplantate wären? Bosch hat Hybride in allen Varianten gemalt: Enten mit Trompetenköpfen, Fische mit Ritterhelmen, Pflanzenmenschtiermaschinen. Es gibt bei ihm Architekturen, die aus Fleisch und Haut – Biomasse – zu bestehen scheinen; umgekehrt sind die Lebewesen mit schimmerndem alchemistischen Glaskram und künstlichen Gliedern ausgestattet, auch Körper­öffnungen haben ihn sehr beschäftigt, da geht immer was rein oder raus. Im "Garten der Lüste" treiben alterslose Menschen verschiedener Hautfarben verrückte Spiele – erotisch, kindisch, voller Appetit auf Erfahrung, inmitten einer Natur, die sie offenbar nicht als anderes, Nichtmenschliches, wahrnehmen. Auf die Zentralperspektive hat Bosch hier verzichtet: die Figuren und Geschichten sind gleichgeordnet, es gibt keine ­Hierarchie, keinen bevorzugten Standpunkt.

Die Forschung hat lange darüber gestritten, ob der Mittelteil des "Gartens der Lüste" für Bosch und sein Publikum ein Ideal, eine Utopie war oder die Darstellung einer lasterhaften, "verkehrten" Gesellschaft. Wir können das heute, wo die Sache mit der Hölle vom Tisch ist, aber eigentlich entspannt lesen. Sagen wir, mit dem optimistischen, toleranten Motto der Science-Fiction-Serie "Star Trek": "unendliche Vielfalt in unendlichen Kombinationen". Die postmoderne Kultur lebt vom Mischmasch; in Comics und Filmen, in der Musik und Literatur wird beständig gesampelt, gepuzzelt und gekreuzt. Vampire, Superhelden und Mangamädchen, Aliens und Androiden, Rollenspieler und Gamer, Street-Artisten, die Parkhäuser und Autobahnbrücken mit ihren Fantasien infizieren: das sind Grenzgänger zwischen den Welten, Agenten des Wandels.

Als die Erde entzaubert wurde, entfaltete sich die Utopie

Und wo, könnte man fragen, soll Bosch das alles hergenommen haben? Natürlich hat Bosch nicht die Gentechnik, den Hip-Hop oder die sexuelle ­Revo­lution erahnt. Er lebte aber in einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs. Das Rittertum war zu Beginn des 15. Jahrhunderts in der Schlacht von Azincourt buchstäblich im Schlamm versackt; in den fünfziger Jahren, kurz nach Boschs Geburt, begann sich der Buchdruck in Mitteleuropa auszu­breiten. In den Schriften früher Reformatoren löste der gnädige Gott den strafenden ab, der Klerus geriet in die Kritik. Und in dem Maß, in dem die Erde entdeckt und entzaubert wurde, entfalteten sich das Utopische und Fantastische in der Kunst.

Beruflich und finanziell war Bosch in einer günstigen Lage. Die Werkstatt war im Familienbesitz und etabliert; nach einer vorteilhaften Heirat, gerade mal über den Markt seiner ­lebhaften, wohlhabenden Heimatstadt s’-Hertogenbosch hinweg, hätte er vermutlich kein einziges Bild mehr malen müssen. Aber er war populär in der jungen höfischen Sammler­kultur, wo seine Arbeiten nicht nur wegen ihres religiösen Bildprogramms geschätzt wurden, sondern – weil sie seine Handschrift trugen, weil sie "von Bosch" stammten. Fest verankert in seiner Gemeinde und in der Bildkultur seiner Zeit, war der Mann schon auf dem Weg zu einem modernen Künstlertum, das sich die Freiheit nimmt, das Unvorstellbare vorzu­stellen. Eine dieser spontanen Mutationen, ohne die es nicht vorangeht in der Welt.

 

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