Ein weißer Mann und eine schwarze Frau sehen sich in die Augen, offenbar im Begriff, sich zu küssen. Die beiden sind paradiesisch nackt und völlig entspannt im Hier und Jetzt. Neben ihnen zwei riesige Singvögel, die unverwandt ins Weite starren. Rätselhaft. Das ist, ganz klar, ein Motiv von Hieronymus Bosch. Ich bin aber nicht im Museum, sondern auf einer Gartenparty. Und der "Bosch" prangt auf der iPhone-Hülle einer Freundin.
Eine Kurzumfrage zwischen Grill und Pool ergibt einen beachtlichen Informationsstand. Bosch – das war der mit den Monstern, gruselig. Spätmittelalter, Reformation, irgendwie dazwischen. Ein Vorläufer der Surrealisten. Psychedelisch, wie ein Trip, meint ein Bekannter, der mal ein Jahr Niederlandistik studiert und in Amsterdamer Kneipen herumgehangen hat. Fast alle kennen Bosch – aber nicht im Original, sondern von Reproduktionen. Er hat bloß zwei Dutzend Gemälde hinterlassen, und die sind über die Welt verstreut; der "Garten der Lüste", aus dem die Vögel auf der Smartphone-Hülle stammen, hängt im Prado.
Die Deutungen reichen von "Ketzer" bis "tiefgläubig"
Was immer Sie über Bosch denken: Es kann nicht so falsch sein. Angenehm ist schon mal, dass er sein Werk ohne Beipackzettel ausgeliefert hat; es gibt keine Briefe, keine Tagebücher, nur amtliche Dokumente. An der Zuschreibung seiner Bilder wird gearbeitet, seit die Kunsthistoriker über Techniken wie die Dendrochronologie verfügen, die das Alter der Holztafeln ermittelt, auf die er gemalt hat; der Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Die Deutungen reichen von "Ketzer" bis "tiefgläubig", von entgrenzt bis hochmoralisch. Es gibt Verschwörungstheorien – "der konnte so radikal malen, weil er einer Loge angehörte", sagt mir auf der Party einer, der sich in der Kunstszene auskennt –, aber auch Interpreten, die Bosch komplett im Zeitgeist aufgehen lassen und jedes Bilddetail auf eine literarische oder malerische Vorlage zurückzuführen wissen. Spätestens an den saftigen Erdbeeren, die im Mittelteil des berühmten Triptychons "Der Garten der Lüste" in jeder Bildecke gegessen oder umtanzt werden, scheitern die meisten. Sind sie das Symbol für die Flüchtigkeit jedes irdischen Genusses? Kommen wir wie die gequälten Menschen auf der rechten Tafel in die Hölle, wenn wir uns die schmecken lassen? Ich glaube ja, Bosch war der erste Beatle und wollte uns was in der Richtung sagen: Kommt, ich nehm euch mit, denn ich gehe zu den Strawberry Fields. Wo nichts wirklich ist und sich alles schon irgendwie regelt . . . "Strawberry Fields Forever".
Die Zeitgenossen haben die religiösen Motive und konkret sozialkritischen Details von Boschs Bildern bestimmt besser verstanden als wir heute, da muss man sich nichts vormachen. Im Jubiläumsjahr, in dem sich das schmale Erbe an Bildern und Zeichnungen in einer großen Schau – gerade in Madrid – vereinigt, wird jedoch sichtbar, wie tief der Bosch-Code in die Kultur eingesickert ist. Nicht, dass moderne Künstler sich offensiv an ihm orientiert, sich bei ihm "bedient" hätten. Salvador Dalí etwa, eigentlich der erste Verdächtige in diesem Zusammenhang, distanzierte sich von Boschs Werk – ein "Produkt der schrecklichen Verdauungsstörungen des Mittelalters". Und dass der Niederländer eine Ausnahmeerscheinung, ein "Break" in der Kunstgeschichte war, ist unumstritten. Es gibt aber Strukturen und Themen in Boschs Werk, die über seine Zeit, das ausgehende 15. Jahrhundert, hinausweisen und jetzt erst richtig hervortreten: Die Welt, in der wir heute leben, war damals im Entstehen.
Akribisch gemalte Foltertechniken
Mischwesen heute
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Street-Art: In der Altstadt von Neapel läuft dieses getigerte Schnabeltier über eine WandDie Bosch-Splatter-Verbindung ist, glaube ich, kein ganz zufälliges Produkt meiner durchgeknallten Synapsen gewesen. Kaum ein anderer Maler hat nach ihm so sinnlich und drastisch die physische Folter visualisiert. Im Gegenteil, die Hochkultur verdrängte genau diese Bilder im Laufe der folgenden Jahrhunderte; sie wurden tabuisiert, am gründlichsten bei den Nazis, die nur helle und "heile" Menschen dargestellt haben, während sie die Welt in ein Beinhaus verwandelten. Erst die modernen Medien haben die explizite Darstellung der Tortur wieder popularisiert. Heute rechnen nicht bloß ausgesprochene Horrorfans, sondern auch Anhänger gefeierter Fernsehserien wie "Game of Thrones" oder "The Walking Dead" jeden Abend mit zertretenen Köpfen und abgetrennten Genitalien.
Die Grenzen zum Traum sind fließend
Unser Fernsehen, unsere Popkultur zieht es unaufhaltsam ins Apokalyptische. Während Bosch, der Apokalyptiker, vielleicht nicht so weit weg von der Wirklichkeit war. Der Kunsthistoriker Hans Belting macht darauf aufmerksam, dass die Landschaft im Höllenpaneel des "Gartens der Lüste" keine natürliche ist, sondern von Menschen gestaltet und durch Krieg verunstaltet: brennende Häuser, gepanzerte Heere, Züge nackter, verängstigter Flüchtlinge. "Sieht nicht aus wie die Hölle", sagt mein Sohn im spontanen Bosch-Test, "sieht aus wie die Welt in 20 Jahren."
Mischwesen heute
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Der Mutant mit den Engelsflügeln tritt in X-Men-Comics und -Filmen auf, aktuell in der Folge „Apocalypse“.Enten mit Trompetenköpfen
Der Schlüssel zu Bosch ist unser Modewort "hybrid": für das Vermischte, Gekreuzte, Bastardisierte. Hortensien können hybrid sein und Autos, aber auch ganze Gesellschaften. Und der moderne Mensch ist ein Mischwesen aus Natur und Technik – schon mal drüber nachgedacht, wo Sie ohne die neue Hüfte und die Zahnimplantate wären? Bosch hat Hybride in allen Varianten gemalt: Enten mit Trompetenköpfen, Fische mit Ritterhelmen, Pflanzenmenschtiermaschinen. Es gibt bei ihm Architekturen, die aus Fleisch und Haut – Biomasse – zu bestehen scheinen; umgekehrt sind die Lebewesen mit schimmerndem alchemistischen Glaskram und künstlichen Gliedern ausgestattet, auch Körperöffnungen haben ihn sehr beschäftigt, da geht immer was rein oder raus. Im "Garten der Lüste" treiben alterslose Menschen verschiedener Hautfarben verrückte Spiele – erotisch, kindisch, voller Appetit auf Erfahrung, inmitten einer Natur, die sie offenbar nicht als anderes, Nichtmenschliches, wahrnehmen. Auf die Zentralperspektive hat Bosch hier verzichtet: die Figuren und Geschichten sind gleichgeordnet, es gibt keine Hierarchie, keinen bevorzugten Standpunkt.
Die Forschung hat lange darüber gestritten, ob der Mittelteil des "Gartens der Lüste" für Bosch und sein Publikum ein Ideal, eine Utopie war oder die Darstellung einer lasterhaften, "verkehrten" Gesellschaft. Wir können das heute, wo die Sache mit der Hölle vom Tisch ist, aber eigentlich entspannt lesen. Sagen wir, mit dem optimistischen, toleranten Motto der Science-Fiction-Serie "Star Trek": "unendliche Vielfalt in unendlichen Kombinationen". Die postmoderne Kultur lebt vom Mischmasch; in Comics und Filmen, in der Musik und Literatur wird beständig gesampelt, gepuzzelt und gekreuzt. Vampire, Superhelden und Mangamädchen, Aliens und Androiden, Rollenspieler und Gamer, Street-Artisten, die Parkhäuser und Autobahnbrücken mit ihren Fantasien infizieren: das sind Grenzgänger zwischen den Welten, Agenten des Wandels.
Als die Erde entzaubert wurde, entfaltete sich die Utopie
Und wo, könnte man fragen, soll Bosch das alles hergenommen haben? Natürlich hat Bosch nicht die Gentechnik, den Hip-Hop oder die sexuelle Revolution erahnt. Er lebte aber in einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs. Das Rittertum war zu Beginn des 15. Jahrhunderts in der Schlacht von Azincourt buchstäblich im Schlamm versackt; in den fünfziger Jahren, kurz nach Boschs Geburt, begann sich der Buchdruck in Mitteleuropa auszubreiten. In den Schriften früher Reformatoren löste der gnädige Gott den strafenden ab, der Klerus geriet in die Kritik. Und in dem Maß, in dem die Erde entdeckt und entzaubert wurde, entfalteten sich das Utopische und Fantastische in der Kunst.
Beruflich und finanziell war Bosch in einer günstigen Lage. Die Werkstatt war im Familienbesitz und etabliert; nach einer vorteilhaften Heirat, gerade mal über den Markt seiner lebhaften, wohlhabenden Heimatstadt s’-Hertogenbosch hinweg, hätte er vermutlich kein einziges Bild mehr malen müssen. Aber er war populär in der jungen höfischen Sammlerkultur, wo seine Arbeiten nicht nur wegen ihres religiösen Bildprogramms geschätzt wurden, sondern – weil sie seine Handschrift trugen, weil sie "von Bosch" stammten. Fest verankert in seiner Gemeinde und in der Bildkultur seiner Zeit, war der Mann schon auf dem Weg zu einem modernen Künstlertum, das sich die Freiheit nimmt, das Unvorstellbare vorzustellen. Eine dieser spontanen Mutationen, ohne die es nicht vorangeht in der Welt.