Auf den ersten Blick kommen einem die beiden vertraut vor. So etwas hat man oft in Kirchen und Ausstellungen gesehen. Doch sofort zeigt sich: Hier ist alles anders. Hier hält eine Tochter ihren Vater im Arm und nicht, wie in einer „Pietà“, die Mutter ihren Sohn. Der Mann ist auch nicht durch Folter und Kreuzigung entstellt, sondern scheint entspannt zu schlafen. Die Frau gibt sich auch nicht ihren Schmerzen hin, sondern scheint über sich und ihre Familie nachzudenken.
Julia Krahn, die Aachenerin, die in Mailand lebt, macht keine religiöse Kunst, aber trotzdem sieht dieses Foto irgendwie religiös aus. Ihr Bild „Vater und Tochter“ hängt in der Ausstellung „Madonna. Frau – Mutter – Kultfigur“ im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. Es belegt mit vielen anderen, wie unverwüstlich der religiöse Bilderkanon bis heute ist. Krahn schreibt im Ausstellungskatalog, die Menschen heute hätten die Geborgenheit verloren und die Fähigkeit, „etwas halten und aufbauen zu können“. Die Ausstellung und ihre vielfältigen Frauenbilder scheinen das Gegenteil zu belegen.
Frauen, so wie sie in Hannover ins Bild gesetzt sind, sind Garanten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie nähren und hüten. Das geht von sehr einfachen Frauenidolen aus der Altsteinzeit und antiken Plastiken von Göttinnen wie der vielbrüstigen Artemis von Ephesos (mit ihr setzte sich laut Apostelgeschichte Paulus heftig auseinander) über die im fünften Jahrhundert zur „Gottesgebärerin“ avancierte Mutter Jesu bis hin zu antilutherischen, goldprotzenden Marienbildern des Barocks. Und gerade in der vorchristlichen Zeit und in der zeitgenössischen Kunst gibt es viele Frauenbilder ohne Kind.
Viele Madonnenbilder leben von der Widersprüchlichkeit zwischen religiöser Verfügungsbereitschaft und erotischer Verführung. Über Jahrhunderte wurde Maria als demütige Magd Gottes stilisiert. Gibt es eine Madonna, die weder in ihrer Mutterrolle aufgeht noch sich ganz im Dienst für andere verschleißt? Eine Madonna, die ihre eigenen Ziele verfolgt. Kein Kind auf dem Arm. Keine demütig verdrehten, gen Himmel gerichteten Augen. Kein vorbildliches stilles Leiden. Keine Kämpferin für ihre Unschuld.
Die Ausstellung tut das Beste, was einem Museum möglich ist
Edvard Munch hat eine freie, selbstbewusste Madonna gemalt, auch sie ist in Hannover anzuschauen, und zwar gleich in zwei Lithographien. „Madonna (Liebende Frau), 1895/1902“, im gemalten Rahmen sind Spermien und ein Embryo zu sehen. Munch pocht gegen alle Vorstellungen von einer „Jungfrau Maria“ auf eine irdische Empfängnis. Unklar, ob diese Maria Schmerz oder Lust empfindet, vielleicht beides. Und dann das „Weib mit rotem Haar und grünen Augen. Die Sünde“, 1902.
Die Ausstellung
„Madonna. Frau – Mutter – Kultfigur“ im Landesmuseum Hannover ist bis 14. 2. geöffnet. Schirm„herrin“ der Ausstellung ist Margot Käßmann.
Sie sagt auch: Man darf Martin Luther und die Reformatoren nicht in einen Topf werfen. Martin Luther war ja bis zum Ende seines Lebens Katholik und verehrte Maria. Er hatte eine eigene Marienikone bei sich zu Hause. Erst nach Luther wurde Maria als Symbol der Gegenreformation verwendet, es kam auch auf evangelischer Seite zu einer Antibewegung.
Originell, eine Madonnenausstellung mit heidnischen Frauenidolen wie dem der Artemis zu schmücken, jener jungfräulichen Stadtkönigin aus den Heiligtümern seit dem 7. Jahrhundert vor Christus. Aber wie viel Muttergöttin steckt in der Madonna? Katja Lembke, klassische Archäologin, gibt zwar zu, dass es keine Quellen zur direkten Übernahme der Muttergottheit ins Christentum gibt. „Aber es fehlte in der Heiligen Familie der Bibel ein weibliches Pendant. In der Bibel spielte Maria bislang eine untergeordnete Rolle.“ Das Bedürfnis nach einer weiblichen Gottheit – die es, theologisch betrachtet, nicht gibt – war aber da. „Als Gottesgebärerin erfuhr Maria eine deutliche Aufwertung.“
Die Madonnenausstellung von Hannover tut das Beste, was einem Museum möglich ist: Sie stellt traditionelle Frauenbilder infrage, statt sie zu bekräftigen.