Dietmar Beiersdorfer (HSV) und Siegfried Eckert über Demut
chrismon: Ein Fußballer will siegen, ein Manager führen. Und wir sprechen hier jetzt über Demut. Passt das zusammen?
Dietmar Beiersdorfer: Ja. Demut ist ein Führungsprinzip. Ich möchte nach außen wie nach innen in den Club hinein derjenige sein, der geerdet ist, der sich zurücknimmt, der versucht, allen mit Toleranz zu begegnen. Ich verstehe unter Demut, jeden Menschen so zu achten und so zu behandeln, wie ich auch gern behandelt werden möchte.
Aber Fußball assoziiert man mit unbändigem Willen, Aggressivität, man muss den Gegner besiegen wollen. Hilft da Demut?
Beiersdorfer: Man kann demütig und trotzdem stark oder aggressiv sein. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Schließlich muss man ja trotzdem Leistung bringen, und das geschieht nicht nur, indem man gelassen ist.
Siegfried Eckert: Eine nur demütige Haltung im Leistungssport ist natürlich riskant. Wer sich wehrlos gibt, der hat schnell verspielt. Dann sagen die anderen: Was bist du für ein Schwächling? Demut ist ja auch keine Sportart, sondern eine Haltung dem Leben gegenüber. Sie lehrt, dass ich nicht alles unter Kontrolle habe, auch den sportlichen Erfolg nicht.
Herr Eckert, Sie schreiben in Ihrem Buch, die Demut passe nicht in die Zeit der Performer und Macher...
Eckert: Der einstige Prior von Taizé, Frère Roger, hat einmal ein Begriffspaar geprägt: Kampf und Kontemplation. Bei den Benediktinern heißt es ora et labora – bete und arbeite. Andere nennen es die Pole unseres Lebens, Yin und Yang. Die sind in Spannung zu halten, sonst wird es fad. Ich finde, die verstaubte Tugend der Demut kann als einer dieser Pole hochaktuell sein. In einer Leistungsgesellschaft, die in ihrem Optimierungswahn glaubt, dass jeder Einzelne sich das Heil selber schaffen könne, ist die Demut ein gutes Korrektiv. Aber natürlich braucht es auch den Ehrgeiz, gut sein zu wollen und Leistung zu bringen.
Beiersdorfer: Ich freue mich total über einen Sieg und kann auch ausgelassen sein. Aber ich weiß, dass dann das nächste Spiel kommt, so ist es nun mal im Fußball. Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, dass das in Spannung bleiben muss. Aber Demut ist der Rahmen, in dem sich alles abspielen muss. Darauf kann man aufbauen.
"Wenn man Heiligabend allein in der Kneipe sitzt, ist das nicht lustig"
Wann haben Sie sich diese Haltung erarbeitet?
Beiersdorfer: In jedem Leben gibt es Einschnitte oder Einschläge. Mit den Jahren wurde ich gelassener, aber manchmal brechen Emotionen hervor, durchaus an der Grenze zur Unkontrollierbarkeit. Heute versuche ich, mir reflektiert eine Meinung zu bilden, Grund unter mir zu haben. Deswegen sagt man mir manchmal nach, dass ich weniger spreche und mehr denke, und vielleicht ein bisschen länger brauche, um zu antworten...
Eckert: ...was ja nichts Schlechtes ist! Sie sprachen gerade von den Einschlägen des Lebens, die Sie demütig gemacht haben.
Beiersdorfer: Sie haben mir jetzt angesehen, dass ich zweifle, ob ich mehr sagen will oder nicht, stimmt’s? Ein großer Einschlag in meinem Leben war vor 15 Jahren die Trennung von meiner ersten Frau, das Scheitern von Ehe und Familie. So, wie ich erzogen wurde, im eher konservativen und wertebewussten Franken, ging das ja gar nicht. Kulturell. Moralisch. Weniger von außen, in mir fühlte es sich an wie ein Stigma. Ich habe dann erst allein gewohnt in einer kleinen Wohnung, später in einer Wohngemeinschaft. Ich bin oft zu den Buddhisten gegangen, habe zugehört, wie behutsam und respektvoll die gesprochen haben. Und wenn man Heiligabend allein in der Kneipe sitzt, ist das nicht so lustig.
Gab es in Ihrem Leben auch so eine Situation, Herr Eckert?
Eckert: Mein Vater ist recht jung verstorben, mit 58 Jahren, das ging nicht spurlos an mir vorüber. Als Pfarrer erlebe ich oft die Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Schlimmste ist, Kinder beerdigen zu müssen. Da fühle ich mich sprachlos und ohnmächtig. Dankbar stimmen mich andererseits die Beziehung zu meiner Frau und unsere drei Kinder – das erlebe ich als ein großes Geschenk! Und die Demut sagt mir: Das verdanke ich mir nicht selbst. Herr Beiersdorfer, meinen Sie, dass dieser persönliche Tiefschlag Sie gestärkt hat für die berufliche Verantwortung?
Beiersdorfer: Bei mir gab es auch günstige Konstellationen, es muss sich ja auch immer ein bisschen fügen. Manch andere haben es eindeutig schwerer.
Eckert: Man muss sich nicht für die Sonne entschuldigen, die scheint.
Beiersdorfer: Nie würde ich sagen, dass ich ganz unten war, da gibt es schlimmere Schicksale als meins. Es klingt gut, wenn einer zurückhaltend und demütig ist, aber man muss es sich auch leisten können, so zu sein. Wer gut im Leben steht, einen guten Job hat, kann auch mal gelassen sein. Ich spreche hier schon von einer sozialen und atmosphärischen Luxuswarte.
Eckert: Martin Luther sagt ja interessanterweise...
Beiersdorfer: ...etwas anderes als ich?
Eckert: Er sagt, der Demütige weiß gar nicht, dass er demütig ist. Der, der in dieser Haltung lebt, reflektiert das nicht, prahlt auch nicht damit. Sie sagten vorhin in einem Nebensatz: Da fügt sich auch etwas. Genau das meint Luther.
"Die Demut nach dem 7:1 im WM-Halbfinale hielt nicht lange an"
Kann jemand, der nicht gläubig ist, demütig sein? Oder ist das nur was für Kenner? Wir beten ja auch "Dein Wille geschehe..."
Eckert: Das Gefühl des Gehaltenwerdens verspüren Menschen intuitiv, ohne dass sie es unbedingt religiös deuten. Ich muss auf solches Empfinden auch nicht gleich das Etikett "Jesus liebt dich" draufkleben. Die Demut hat aber auch eine gesellschaftliche Seite. Sie ist eine subversive Tugend, die selbst Machthaber aushebeln kann. Angela Merkel und das palästinensische Flüchtlingskind, im vergangenen Sommer: Die Bundeskanzlerin wirkte hilflos, als dieses Kind weinte! Jemand von ganz unten brachte die Kanzlerin ganz schön in Verlegenheit.
Gab es für Sie Situationen, in denen Sie Menschen zur Demut geraten haben?
Eckert: Demut als Tipp – das geht nicht. Ich gebe keine Lebensrezepte. Wenn ich etwas empfehlen sollte, ist es höchstens etwas wie: Wenn du nicht mehr weiterweißt, versuche, von der Bahnsteigkante zurückzutreten und durchzuatmen. Ich kontrolliere auch gern vieles, aber wir haben nicht alles im Griff. Es hilft schon, das Leben gelassener anzugehen. Wir sind oft viel zu verkrampft, wollen viel zu viel erzwingen. Ich gebe als Pfarrer ungern einen Rat, sondern versuche meine Überzeugungen eher glaubwürdig vorzuleben. Einfach die Sachen tun und andere anstiften, dass sie es ähnlich machen. Die eigene Haltung ist dabei entscheidend.
Beiersdorfer: Das kann ich nur bestätigen. Die Leute schauen immer, wie man sich wirklich verhält. Authentizität ist ein hohes Gut. Das löst nicht alle Probleme und wird einem im Zweifel auch vorgeworfen. Aber ich glaube ans Tun und weniger ans Sagen.
Eckert: Theologisch ist Demut als freiwilliger Gottesdienst zu verstehen. Würden Sie sagen, so etwas gibt es auch im Fußball? Sagen Sie: Ich diene dem HSV und erwarte von Spielern und Mitarbeitern, dass sie dieser Sache, diesem Verein ebenfalls dienen?
Beiersdorfer: Ja. Wenn man das entsprechend vorlebt, wird man auf dem Weg Leute finden, die einen begleiten. Es gibt Vereine, die mehr Geld und mehr Möglichkeiten haben. Gerade der Fußball zeigt aber doch, dass Teamspirit auch den Unterschied machen kann. In zehn Spielen gewinnt acht Mal die Mannschaft, die das Doppelte an Gehaltssumme hat, aber es gibt ein oder zwei Spiele, bei denen es anders aussehen kann.
Sie beide waren beeindruckt, wie sich der Bundestrainer Jogi Löw beim WM-Halbfinale Brasilien–Deutschland gegeben hat. Was war das Besondere daran?
Eckert: Der Gegensatz. Diese Haltung nach dem 7:1-Sieg: Lasst uns am Boden bleiben, den Gastgeber nicht demütigen. Das war das eine. Aber auf der Berliner Fanmeile sang man dann "So gehen die Gauchos" und machte sich lustig über die Argentinier, den Finalgegner. Die Euphorie hat einige schnell wieder hochmütig werden lassen – ein paar Tage nach der Empfehlung, demütig zu sein. Ich fragte mich damals: Was bedeutet Demut eigentlich? War das nur Strategie? Und dennoch war das Wort, das aus dem Religiösen kommt, plötzlich im Fußball angekommen.
Beiersdorfer: Mir hilft in dem Fall, dass ich den Menschen, der dahintersteht, zumindest etwas kenne. Ich glaube, dass Jogi Löw Demut in sich hat. Seine Haltung war richtig, und es tut uns als Fußballnation gut, wenn Demut gelebt wird. Daran orientieren sich viele.
"60 000 Fans rufen den Namen des Spielers – dafür ist seine Psyche gar nicht ausgestattet"
Warum ist das Thema so modern und bis in Managerseminare vorgedrungen?
Eckert: Vielleicht ist es eine Möglichkeit, elegant mit dem Thema Scheitern umzugehen? Man transportiert ja Emotionen damit. Gegenwärtig wird das Wort Demut gerne im Mund geführt, so wie "Achtsamkeit" oder "Gelassenheit". Wo die Freiheit des Menschen nicht geachtet wird; wo das Ziel und die Sache, um die es geht, nicht dem großen Ganzen dienen, sondern nur dem Interesse, Gewinne zu machen; wo die Demut als Marketinginstrument eingesetzt wird – da sehe ich ihre Instrumentalisierung sehr kritisch. Diese Haltung lebt von der Glaubwürdigkeit ihrer Akteure. Und das ist das Imageproblem zum Beispiel der Banken. Ich nehme ihnen die plötzliche Demutshaltung nicht ab. Auch VW nicht, sorry.
Beiersdorfer: Sich zu entschuldigen und demütig zu geben, ist nicht die wahre Demut. Die hat für mich mit Ausdauer zu tun – einer Haltung, die man über einen langen Zeitraum aufrechterhalten kann. Und auch da wird jeder mal Aussetzer haben.
Herr Beiersdorfer, Sie waren früher Profifußballer, Sie haben im Pokalfinale 1987 ein wichtiges Tor für den HSV geschossen – da hebtʼs einen doch auf Wolke sieben!
Beiersdorfer: Natürlich hatte auch ich meine Phase, in der ich dachte, ich sei besonders. Einmal stand in der Zeitung ein Zitat von mir: "Ich habe alle Höhen und Tiefen erlebt." Und dann sagte mein damaliger Trainer Ernst Happel vor der Mannschaft beim Warmmachen zu mir: "Zauberer, was hab ich da in der Zeitung gelesen von dir? Du hast alle Höhen und Tiefen erlebt? Du hast gar nix erlebt mit deinen 22 Jahren!" Er hatte recht.
Eckert: Wenn ein Spieler auf dem Rasen steht, und 60 000 Fans rufen seinen Namen – dafür ist unsere Psyche doch gar nicht ausgestattet. Das Risiko, hochmütig zu werden, ist durchaus gegeben.
Beiersdorfer: Auf alle Fälle. Wir haben schon mal einen jungen Spieler verpflichtet, der plötzlich viel mehr Geld hatte als vorher und erst mal mit seiner Frau hier am Neuen Wall rauf und runter einkaufte. Das lässt auch nach. Wahrscheinlich muss man das erleben, um daraus zu lernen. Man kann ja nicht alles vorherplanen. Überhaupt: Kinder und Jugendliche haben es heutzutage ganz schön schwer. Die haben kaum Zeit, jung zu sein. Mit 17 Abitur, mit 22 fertig mit dem Studium, und dann sollen sie uns die Welt weiterdrehen? Ohne dass sie große Erfahrungen gemacht haben? Die Welt ist schneller als früher, manchmal zu schnell.
Eckert: Auch der Fußball ist schneller geworden.
Beiersdorfer: Ja. Und dabei muss jeder seine Erfahrungen machen. Der eine kriegt’s geregelt, der andere nicht. Das hat mit dem Umfeld zu tun und mit Beziehungen. Wenn ich was raten würde, dann: Guck drauf, mit wem du dich umgibst und wer die Leute sind, zu denen du wirklich aufschauen kannst.
"Den Respekt jedem gegenüber – das schaffe ich dann auch nicht immer"
Scheitern Sie manchmal an Ihren eigenen Idealen?
Eckert: Ich kenne meine Fallen ganz gut. Die Gegenkraft der Demut ist eine zu große Selbstbezogenheit. Martin Luther sagte: Wir sind Sünder und Gerechtfertigte zugleich. Ich habe mit der Demut noch lange nicht fertig. Sie ist eher meine Problemzone. Ich bin ihr Lehrling, nicht ihr Meister. Und wenn ich scheitere, hat das auch mit dieser Schwachstelle zu tun. Man wünscht sich’s nicht.
Beiersdorfer: Jeder, der sich mit Fußball befasst, weiß, dass der HSV einen weiten Weg vor sich hat, raus aus einer Zerrüttung, einer Art Sinn- oder Identitätskrise – neben normalen Symptomen wie Enttäuschungen oder Abstiegskampf. Das führt manchmal dazu, dass ich mir viel auflade. Wenn ich das schaffe, macht es mich glücklich. Aber es fordert mir viel ab. Und diesen Respekt jedem gegenüber – den schaffe ich dann auch nicht immer.
Eckert: Im Neuen Testament gibt es eine Geschichte von Jesus und seinen Jüngern. Bevor sie zu Abend essen, übernimmt er die Rolle des Sklaven und wäscht ihnen die Füße. Die Demut sagt: oben ist unten. Wo ist in ihrem Fußballverein ganz unten?
Beiersdorfer: Zu definieren, wo ganz unten ist, ist sehr schwierig. Das Urteil will ich mir auch gar nicht erlauben. Alle Mitarbeiter hier sind die Treiber des täglichen Tuns.
Eckert: Für Sie ist alles gleich wertvoll? Der Apostel Paulus beschreibt das Leben der ersten Gemeinde ähnlich: Es gibt weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau, weder Jude noch Heide. Wir sind alle eins in Christus. Wenn man das überträgt auf Ihren Verein, dann ist es ein Versuch, alle zusammen so an Bord zu kriegen, dass sich jeder mit dem, was er tut, identifiziert, egal ob Putzfrau oder Torwart oder Vorstandsvorsitzender. Es geht um den Dienst an der gemeinsamen Sache?
Beiersdorfer: Natürlich gibt es Unterschiede. Im Status, in der öffentlichen Wahrnehmung oder der Gehaltsklasse. Aber ich bin sicher: Um im Sport Erfolg zu haben, braucht man die Glaubwürdigkeit, allen im Club Respekt entgegenzubringen, ihnen zu vertrauen.
Es gab im Abstiegskampf der vergangenen Saison viel Häme gegen den HSV. Und Unmut, als Sie es doch noch geschafft hatten – teilweise bis hin zum Hass. Was machen solche negativen Gefühle mit Ihnen, Herr Beiersdorfer?
Beiersdorfer: Ich habe für mich entschieden, dass ich lieber zu wenig weiß, als mich runterziehen zu lassen. Man kann auch nicht jeden negativen Pressebeitrag und Internetkommentar für voll nehmen. Das ist jetzt vielleicht Hochmut...
Eckert: ...das ist Selbstschutz! Als es um den Abstieg ging und der Dinosaurier HSV kurz vorm Exitus war – lehrt Not beten?