chrismon: Auch Bakterien haben ein Immunsystem?
Hagen Richter: Ja, es wehrt Viren ab und kann sich Erreger merken, die schon mal da waren. Das war lange Zeit gar nicht bekannt. In unserer Forschungsgruppe wollen wir herausfinden, wie diese Abwehr funktioniert.
Sie nutzen eine Biotechnologie, die gerade die Genforschung revolutioniert . . .
. . . die CRISPR-Cas9-Funktion. Sie kommt natürlicherweise in Bakterien vor und hilft, ein Virus zu vernichten, das seine DNA, also seine Erbinformation, in die Bakterienzelle einschleusen will.
Warum wollen Sie mehr darüber wissen?
Wir hoffen, etwas von diesem Mechanismus zu lernen: Zum Beispiel sind viele Keime resistent gegen herkömmliche Antibiotika. Die Erforschung des CRISPR-Immunsystems hilft uns zu erkennen, wie die Interaktion zwischen Immunsystem und Erregern funktioniert. Auf dieser Grundlage ließen sich vielleicht Medikamente entwickeln, die wirken, wenn sonst nichts mehr hilft. Die Nutzung von CRISPR-Cas9 ist noch relativ neu. Meine Chefin Emmanuelle Charpentier hat erst im Jahr 2012 beschrieben, wie man es als biotechnologisches Werkzeug verwenden kann.
Und wie funktioniert das?
Man kann es sich vorstellen wie eine Schere, die die DNA aufschneidet. Danach kann gelöscht, repariert oder ausgetauscht werden.
In zehn Jahren
chrismon fragt junge Wissenschaftler, was sie antreibt und was sie in zehn Jahren wissen können
Erst mal ist sie vielversprechend, weil sie große Fortschritte möglich erscheinen lässt, etwa in der Agrartechnologie. Außerdem könnte man Erbkrankheiten behandeln, indem man entsprechende Gene aus der DNA herauslöst oder repariert. Aber gleichzeitig sind große Risiken zu sehen. So könnte jemand versuchen, mit Hilfe dieses Werkzeugs Supermenschen zu schaffen.
Das wäre also denkbar – in zehn Jahren?
Der Supermensch vielleicht nicht – aber die spezifische Behandlung von Erbkrankheiten. Doch bisher ist das Werkzeug noch nicht reif für den medizinischen Einsatz. Es sollte erst genauer untersucht werden. Dabei helfen auch die zahlreichen Versuche, die weltweit in Labors durchgeführt werden und bei denen das CRISPR-Cas9-Werkzeug zum Teil sehr erfolgreich eingesetzt wird. Dabei geht es darum, bestimmte Erbkrankheiten genauer zu verstehen. Denn selbst wer es gut meint und ein defektes Gen bearbeiten will, das eine Erbkrankheit auslöst: Wir wissen noch nicht, welche Folgeschäden Cas9 bei anderen Genen verursachen kann.
Aber technisch wäre die Schere schon einsatzfähig?
Die Anwendung von CRISPR-Cas9 ist einfacher und vor allem weniger kosten- und arbeitsintensiv als ältere Verfahren – aber wie die bisherigen Methoden auch setzt es den Schnitt nicht immer dort, wo er passieren soll. Momentan liegt die Trefferquote nicht bei 100 Prozent. Solange dieser Wert nicht erreicht ist – und zwar immer und bei allen Genen, nicht nur bei einzelnen –, sollte man überhaupt nicht an eine medizinische Anwendung denken, schon gar nicht an einen Eingriff in die menschliche Keimbahn.
Was ist die Keimbahn?
Das ist die Abfolge von Zellen, beginnend mit der befruchteten Eizelle. Aus ihr entsteht neues Leben, das wieder Keimzellen bilden kann, nämlich Eizellen oder Spermien. Die Keimbahn ist unendlich. Wenn wir Gene in Embryonen, Eizellen oder Spermien mit CRISPR-Cas9 verändern und sich aus diesen veränderten Genen ein Mensch entwickelt, hätten wir in die Keimbahn eingegriffen.
Stirbt eine Zelle nicht einfach, wenn CRISPR ein falsches Gen zerschneidet?
Das ist möglich. Oder der falsche Schnitt führt zu weiteren Genstörungen. Das Risiko ist einfach zu hoch.
Man verändert ein Gen und ein Mensch wird aggressiver – meinen Sie so etwas?
Ja. Auch wenn so ein Beispiel natürlich sehr nach Science-Fiction klingt.
Wäre es dann nicht besser, die Anwendung gleich ganz zu verbieten?
Nein, der Nutzen auf anderen Feldern kann sehr groß sein. Aber Eingriffe in die Keimbahn sollte man unterlassen, bis das Werkzeug zu 100 Prozent funktioniert und wir sicher wissen, welche Ursachen eine Erbkrankheit wirklich hat. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Lässt sich die Entwicklung aufhalten?
Ich hoffe, der Grundgedanke aller Wissenschaftler ist, dass sie helfen wollen. Aber auch die muss man fragen, ob es richtig ist, mit allen Mitteln helfen zu wollen.