Kruzifix aus Holz
Anna Thut
Die katholische Urgroßmutter
Jesus ist am Kreuz gestorben, einen schrecklichen Tod. Das Zeichen erscheint bis heute mit Bedeutung ­aufgeladen. Aber mit welcher? Es birgt ein Geheimnis – nicht nur für gläubige Christen
24.03.2015

Oma Lieschen war eine gute Katholikin, und immer wenn sie betete, erzählt mein Vater, schaute sie dieses Kruzifix an, dunkelbraunes Holz, so lang wie ein Blatt Papier, darauf ein Jesus in Messing. Sie hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg gekauft, es hing in ihrem Schlafzimmer. Oma Lieschen war meine Uroma; eigentlich hieß sie Elisabeth, aber weil sie nicht einmal 1,40 Meter groß war, nannten alle sie Lieschen.

Was das Kruzifix wohl alles gehört hat? Schmerzvolles. Lieschen hat zwei Weltkriege erlebt, war früh verwitwet, ist aus Schlesien geflohen, hat ihren Sohn im Krieg verloren.

Es gab aber auch Schönes in ihrem Leben. Der gelungene Neuanfang im Ruhrgebiet mit Tochter und Schwiegersohn. Die Enkelkinder, um die sie sich gekümmert hat. Oma Lieschen betete nicht nur gern und oft, sie war auch abergläubisch. Warzen versuchte sie wegzuhexen: „Do eene, do keene“, murmelte sie dann und zeigte abwechselnd auf die Warze und den Vollmond. So erzählt es mein Vater.

Storify "Irgendwie heilig"

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Ich habe keine Erinnerung an sie, aber auf alten Fotos hält sie mich auf dem Schoß. Ich war die Einzige in der Familie, die kleiner war als sie, vielleicht waren wir ja auch Verbündete. Als Lieschen mit 84 starb, war ich zwei. Meine Oma nahm damals das Kruzifix an sich. Und als die Wohnung meiner Großeltern ausgeräumt wurde, wollte es keiner. Seit sechs Jahren liegt dieses Kreuz nun in meinem Regal hinter den Büchern. Aufhängen möchte ich es nicht. Aber wegschmeißen? Gott  bewahre! Lieschens Grab ist längst eingeebnet; es gibt keinen Ort, an dem man ihr nahe sein kann. Aber immer, wenn ich umräume, wenn ich Bücher suche oder gründlich putze, fällt mir ihr Kruzifix in die Hände. Dann denke ich an sie.
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