Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
20.10.2010
1. Sonntag nach Trinitatis
Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott (...). Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
1. Johannes 4,16-18

Von der Fülle spricht dieser Text. Von der Fülle der Liebe, von Überschwang und Überfluss. Martin Luther hat das berühmte Bild geprägt von Gott, der einem glühenden Backofen voller Liebe gleiche. Der Johannesbrief geht weiter. Er liefert die einzige Definition Gottes in der Bibel. Unsere Bibel erzählt eine Menge von Gott, schildert sein Wirken und Einwirken auf die Menschen. Sie erzählt Gottes Liebesgeschichte mit den Menschen in Geschichten und Gleichnissen. Doch an dieser einen Stelle im 1. Johannesbrief wagt die Bibel eine Gleichung, eine Art Definition für Gott: Gott = Liebe.

Was aber ist das: "Liebe", wenn sie ein Gleichnis für Gott sein soll? Liebe im christlichen Sinn ist zunächst kein Honiggefühl, kein Schlagertext und kein romantisches Abenteuer. Sondern Liebe im Sinne Jesu ist der Ernstfall. Sie bedeutet, das Lebensrecht des anderen unbedingt zu respektieren, weil er unabhängig von Weltanschauung, Religion, Geschlecht oder Rasse genauso wie ich ein geliebtes Geschöpf Gottes ist. Solches Lieben heißt nicht, dass ich irgendwelche positiven Gefühle produzieren muss gegenüber jemandem anderen, der mir schadet, und ich muss auch nicht dauernd mit dem alles verzeihenden Versöhnerlächeln herumlaufen.

Aber Liebe im Sinne Gottes heißt zu respektieren, dass der andere Mensch ein Recht hat auf Raum und Leben, auf Entfaltung und auf Zukunft, ganz egal, ob dieser andere mir nutzt oder schadet, ob ich ihn mag oder nicht. Der Satz "Gott ist die Liebe" hat also durchaus eine berechenbare soziale und politische Dimension.

In der Theologie hat man lange drei verschiedene Arten von Liebe voneinander geschieden: Eros, Agape, Philadelphia. Sozusagen drei Dimensionen der Liebe: die erotische Flamme, die zuwendende Barmherzigkeit und die geschwisterliche Solidarität. Aber das ist eine künstliche Konstruktion. Denn was kann Erotik ohne Erbarmen und Solidarität? Was kann Barmherzigkeit ohne ein brennendes Herz? Und was kann Solidarität ohne die beiden anderen? Der 1. Johannesbrief besingt die überquellende Fülle. Er besingt einen Stoff, der mehr wird, je großzügiger man ihn verteilt.

Der Modetherapeut Bert Hellinger hat die zwischenmenschliche Beziehung, die wir "Liebe" nennen, auf einen ganz einfachen Nenner gebracht. Er ist davon überzeugt, dass jede Beziehung zwischen Menschen auf einem unausgesprochenen Handel beruht, auf einem Geben und Nehmen. Wenn dieses Handelsverhältnis in eine Schieflage gerät, wenn einer mehr gibt, als er bekommt, dann, so Hellinger, würde die Beziehung brechen.

Gottes Liebe aber rechnet nicht, und sie geht keinen Handel ein. Eine Beziehung, die auf einem heimlichen Handel beruht, gebiert nämlich Furcht, würde der Autor des 1. Johannesbriefes dazu sagen. Eine solche Liebe muss mit der Sorge leben, man könne vielleicht eines Tages nicht mehr mithalten. Ein Handel zwischen Mann und Frau würde dann, wenn einer krank und schwach wird, in einer Trennung enden. Schwäche würde also bestraft werden. In einer solchen Liebe wächst die Furcht vor der Schwäche.

Nein. Die Liebe, die Gott gleicht, lebt aus der Fülle. Sie scheut kein Risiko. Sie rechnet nicht im Maßstab von Geben und Nehmen. Sie setzt nichts voraus. Sie setzt sich selbst ein und sie setzt sich selbst aufs Spiel. Gott hat es ebenso gemacht. Er hat sein Leben eingesetzt ohne Gegenleistung. Er hat seine Existenz aufs Spiel gesetzt.

Eine solche überfließende Liebe macht die Umgebung warm, haucht Leben ein dem Abgestorbenen, macht Ängstliche mutig und sie hört und hört nicht auf...