So geht es, wenn Exegeten streiten. Jesus und der Versucher legen die Bibel aus, beide verweisen dabei auf das Alte Testament: Wie die Propheten von einst soll Jesus nun Wunder vollbringen. Was ist der Unterschied? Der Versucher hat eine Absicht: Er will den Menschensohn zu Fall bringen und vom Willen Gottes weglocken. Dazu benutzt er die Bibel. An jenen alten Worten hat er kein originäres Interesse, er benutzt sie als Mittel zum Zweck. Wie viele Zwecke wurden schon gerechtfertigt mit frommen Worten! Der Krieg, die Verdammung bestimmter Formen der Sexualität, die Verachtung der Frauen. Dass einer die Bibel zitiert, sagt noch nichts über die Qualität seiner Argumente. Man muss ihn nach den Interessen seiner Auslegung fragen. Im Netz der Interessen verfängt sich die Wahrheit der Bibel leicht.
Was ist anders bei Jesus, der sich auf jene alten Worte beruft? Er macht sich die Wahrheit der Bibel nicht zu Diensten. Sie sind nicht dazu da, seinen Brothunger zu stillen. Sie sind nicht dazu da, ihm den guten Ausgang seiner Höhenflüge zu garantieren. Sie garantieren gar nichts. Jesus sucht in ihnen den verborgenen und oft nur mühsam zu entdeckenden Willen Gottes. Gewiss sind auch jene, die den Willen Gottes mithilfe der alten Weisungen suchen, nicht vor irrtümlicher Auslegung gefeit. Aber je mehr sie fähig sind, auch der eigenen Auslegung zu misstrauen, und je mehr sie fähig sind, hinter den Wörtern der Bibel die Handschrift Gottes zu suchen, umso mehr nähern sie sich der Wahrheit. Die Sätze und die Wörter der Bibel sind nicht die Wahrheit, aber sie können die Suchenden zur Wahrheit führen. Sie reinigen ihre Interessen und Absichten. Die Wahrheit liegt unter den Wörtern, sie färbt diese, aber sie ist nicht identisch mit ihnen.
Die Bibel ist das große Gottesgespräch unserer Toten. Es enthält ihren Geist und gelegentlich auch ihre Beschränktheit. Gott ist höflich. Er donnert uns seine Wahrheit nicht um die Ohren, auch nicht in der Bibel. Er lässt uns Subjekte sein bei der Suche nach den richtigen Wegen. Gott ist gütig. Er lässt uns nicht in der Gefangenschaft der eigenen Horizonte. Er führt uns in den alten Gesprächen, die unsere Väter und Mütter mit ihm geführt haben und die er mit ihnen geführt hat, in eine Freiheit, die weiter ist als unsere eigenen Horizonte.
Wäre der Versucher bis zum Geist der Bibel gedrungen und nicht an ihren Wörtern hängen geblieben, wäre er nicht dem Grundirrtum verfallen, dass Gottesknechte die vor allen Niederlagen Geschützten sind. Es ist einer der weitverbreitetsten Irrtümer, die Gottbezogenheit von Menschen an ihren Siegen abzulesen. Wenn du der Sohn Gottes bist, sagt der Versucher, wird dir nichts geschehen. Du wirst nicht verhungern an den Steinen des Lebens. Deine Stürze werden aufgefangen sein im Schoß der Engel. Noch unter dem Kreuz wollen die Leute Jesu Gotteskindschaft daran ablesen, dass er sich selbst retten und vom Kreuz herabsteigen kann. Welch ein Irrtum! Diesem Sohne der Gnade ist keine Niederlage erspart geblieben. Man kann Menschen verstehen, die so rufen. Es ist der Ruf nach der eigenen Rettung: Wie sollen wir entkommen, wenn schon jener Gesegnete nicht entkommen ist? Die Engel haben Christus getröstet, nicht gerettet.
Siege sind keine Zeichen der Gotteskindschaft. Trotzdem singt der Glaube trotz aller Niederlagen weiter das Hoffnungslied: Er hat seinen Engeln befohlen, sie werden dich auf Händen tragen.