Die Freiheit des Fastens
Fasten ist mehr als nur der äußerliche Verzicht - es geht um eine Hinwendung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst, sagt der ehemalige Berliner Bischof Wolfgang Huber.
Wolfgang HuberRolf Zöllner/epd-bild
20.10.2010

Früher galt manchen das Fasten als Inbegriff einer weltfremden, sinnenfeindlichen und verstaubten Frömmigkeit. Doch inzwischen ist es in das gesellschaftliche Bewusstsein zurückgekehrt. Ob als heilsame religiöse Übung oder als medizinisch ausgerichtetes Heilfasten, als meditative Selbsterfahrung oder als öffentlichkeitswirksame Protestaktion ­ immer mehr Menschen sehen das Fasten als unverzichtbar an. Freilich kann auch das Maßhalten maßlos werden. Etwa wenn es zur Magersucht führt. Oder wenn es die Fixierung auf den eigenen Körper mit anderen Mitteln fortsetzt. Auch das Fasten will gelernt sein. Deshalb gibt es inzwischen viele Angebote dafür, unter Anleitung zu fasten. Noch vor wenigen Jahren wäre mir das Ausmaß dieser Angebote und dieses Interesses nicht vorstellbar gewesen.

Fasten als geistliche Übung neben Gebet

All das bietet Grund genug dafür, zu Beginn der Passionszeit über die geistliche Dimension des Fastens nachzudenken. In der Bergpredigt Jesu hat das Fasten als geistliche Übung neben Gebet und Almosen einen festen Ort.

Wolfgang HuberRolf Zöllner/epd-bild

Wolfgang Huber

Wolfgang Huber, Jahrgang 1942, ist Professor für Theologie in Berlin, Heidelberg und Stellenbosch (Südafrika). Von 2003 bis 2009 war er Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, von 1994 bis 2009 Bischof der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Außerdem war er chrismon-Herausgeber der ersten Stunde und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er ist Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung Garnisonkirche Potsdam. Als Theologe setzt er sich vor allem mit ethischen Fragen auseinander. 2019 erschien von ihm das Porträt "Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit" (C.H. Beck).

Die Reformation hat die Vorstellung, mit solchen Übungen könne man sich das Heil vor Gott erwerben, allerdings durch drastische Tabubrüche aufgesprengt. Sehr imponiert hat mir von jeher das berühmt-berüchtigte Züricher Wurstessen: Der damalige Prediger in Zürich, Ulrich Zwingli, nimmt am 9. März 1522 an einem demonstrativen Fastenbrechen im Haus des Buchdruckers Christoph Froschauer teil. Der Fall wird öffentlich bekannt und führt zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung über die grundlegenden Bürgerpflichten. Zwingli argumentiert, dass Christen von derartigen Geboten freigestellt seien, wenn sie nicht in der Bibel begründet sind. Er bekommt Recht. Damit wird das Durchbrechen des Fastens in Zürich zu einem Meilenstein der Reformationsgeschichte.

Gewiss ist es beeindruckend, wie 1522 in Zürich gegen selbstgesetzte Zwänge mit der Freiheit des Evangeliums protestiert wurde. Doch dafür, die Tradition des Fastens aus der evangelischen Kirche zu verbannen, war das in Wahrheit kein Grund. Sogar Martin Luther, der gewiss kein Kostverächter war, hat das Fasten ausdrücklich als eine "feine äußerliche Zucht" anerkannt.

Es geht darum, das Leben neu zu entdecken

Doch damit hat er zu wenig gesagt. Fasten ist mehr als eine äußere Übung. Im Fasten, das spüren heute viele Menschen, lässt sich etwas von der Freiheit des Glaubens erleben. Ich selbst verzichte darum in der Fastenzeit bewusst auf manches sonst Vertraute, um mich der Freiheit, die Gott schenkt, in besonderer Weise zu vergewissern. Dafür ist es gut, wenn es sich mit Einkehr und Gebet verbindet.

In der Aktion "Sieben Wochen Ohne" erfahren viele das Fasten in dieser geistlichen Dimension. Natürlich ist der Wunsch, den "Winterspeck" loszuwerden, legitim. Dennoch ist Fasten mehr als eine religiös angehauchte Abmagerungskur. Es ist in der Hinwendung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst eine Form der Begegnung mit Christus.

Seit alter Zeit geht den großen Christusfesten des Kirchenjahres, Weihnachten und Ostern, jeweils eine Fastenzeit voraus: die Adventszeit auf der einen, die Passionszeit auf der anderen Seite. Sie laden ein zu Besinnung und Umkehr. Es geht um nichts weniger als darum, das Leben neu zu entdecken. 

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