In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Wenn das ganze Leben in einem Moment steckt, ob das nun ein inszenierter ist oder ein selbst erlebter. Wenn ich das Gefühl habe: Dieser Augenblick beinhaltet die dunklen wie die hellen Seiten, die fröhlichen wie die traurigen. Es muss beides vorhanden sein, es muss sich die Waage halten. Das können Momente im Privatleben sein oder bei der Arbeit, wobei die Arbeit mitunter auch etwas Gegenteiliges bewirkt: Ich kann da tausend Tode sterben. Wenn man mir zu viele Vorschriften macht, schrumpft mir das lebendige Leben quasi in der Hand zu einem Kadaver zusammen. Da trockne ich aus wie einer, der 20 Tage ohne Wasser gewesen ist. Meine direkte Reaktion ist meistens Zorn, langfristig kann daraus auch eine melancholische, hoffnungslose Stimmung werden.
###mehr-extern### Was können Erwachsene von Kindern lernen?
Unschuld. Die kann manchmal grausam sein, aber auch darin sind Kinder vorbehaltlos. Unschuld heißt ja, dass man die Dinge – wenn das überhaupt möglich ist – vorurteilslos sieht und empfindet: den Schrecken genauso wie die Freude, das Schöne genauso wie das Hässliche. Und dass einen das Leben noch überraschen kann. Diese Unschuld haben wir völlig verloren, die kapitalistische Gesellschaft hat sie quasi gestrichen. In einer Gesellschaft, die darauf beruht, die Dinge möglichst schnell zu sortieren nach Kategorien wie erwerbbar oder nicht erwerbbar, begehrenswert oder nicht begehrenswert, wird es schwierig, vorurteilslos an die Dinge heranzugehen.
Haben Sie eine Vorstellung von Gott?
Nein, aber ich habe das Gefühl, dass ich vielleicht irgendwann eine bekomme. Ich bin nicht sehr gläubig aufgewachsen, meine Familie war nicht religiös. Die Religion ist mir nicht nahegebracht worden als ein Denkweg, dem ich folgen kann. Dennoch habe ich das Gefühl: Warte mal ab, irgendwann kommt das Neue Testament noch einmal um die Ecke. In Filmen von Rossellini gibt es Augenblicke der Erweckung, des anderen Verstehens von Welt, die einen wie ein Blitz treffen. Nur bei mir kommt der Blitz nicht durch die ganze Dunkelheit durch.
Muss man den Tod fürchten?
Der Tod, dieses Nichts, ist so unvorstellbar. Vor diesem Nichts kann man nur kapitulieren, im Sinn von: Dann ist es eben so. Ob ich das könnte, dieses Akzeptieren? Nein, um Gottes willen, ich traue mir selber nicht viel Größe zu angesichts solcher Schicksalswendungen wie Krankheiten, Katastrophen, Berufsunfähigkeit, schreckliche Geschichten in der Familie, Verluste.
Welche Liebe macht Sie glücklich?
Die Liebe zum Partner ist eine komplizierte Sache, die hat viele Gesichter. Sie macht einen unglaublich glücklich und auch wahnsinnig unglücklich. Aber das Unglücklichsein gehört manchmal zum Glück dazu, zumindest zu der ambivalenten Intensität, die die Liebe bringt. Da geht es um die Höhe der Gefühle, egal, ob sie positiv sind oder negativ, ob man viel leidet oder nicht – beides kann grandios sein. Manchmal ist das Herz viel zu klein dafür, wie eine salzige, schrumplige Erdnuss, die gar nicht in der Lage ist, die Leidenschaften und auch das Unglück zu empfinden und sich reinzuwerfen. Das war aber eher in der Jugend so. Ich glaube, in dem Moment, in dem man Kinder hat und eine langjährige Beziehung, da sind die Herzmuskeln automatisch erweitert.
Wie gehen Sie mit Schuldgefühlen um?
Schwierig. Schuldgefühle können ein Granitgewicht erzeugen, das ganze Leben verändern, aber sie sind auch schlechte Ratgeber. Schuldgefühle hat man ja entweder in der Liebe oder im Beruf. Ich bin dann sozusagen im Stadium einer Vollbremsung. Und ich mache mir zwar Vorwürfe, aber ich merke irgendwann, dass das Schuldgefühl auch eine Art Übersprungsemotion ist, die das klare Urteil über das, was eigentlich geschehen ist, verhüllt.
Ihr Film „Die geliebten Schwestern“ strahlt zu Beginn eine große Leichtigkeit aus, 15 Jahre später sind alle Figuren ernüchtert. Ist das Leben so?
Ja. Das kennen wir doch alle, die wir älter werden, dass die Blütenträume Dämpfer erhalten. Das hat man ja auch geahnt. Es kommen neue Lebensphasen, die Hoffnungen beziehen sich auf etwas anderes, auf inneren Frieden, dass man mit sich ins Reine kommt, während es vorher Liebe, Erfolg, Sex oder was auch immer war. Es regiert der Alltag, und den muss man bezwingen.
Die Religion ist mir nicht nahegebracht worden als ein Denkweg
Sehr geehrter Herr Graf,
dass ist für mich eine gute Voraussetzung für personale Religiosität. Weil die Person sie erworben hat und ihr daher als ihr eigener Wert „wertvoll“ ist.
Religiöse Erziehung stiftet keineswegs den Glauben, den die christliche Botschaft meint. Dafür ist sie zu anspruchsvoll. Sie sehen es an den Ergebnissen: Er trägt meistens nicht, weil die religiöse Erziehung nur als Konvention überliefert wird und der Person fremd bleibt.
Im schlimmsten Fall führt religiöse Erziehung zu Entfremdungserlebnissen der Seele. So, wie Sie es ausgezeichnet hier zum Begriff "Schuld" sagen: " ... das Schuldgefühl auch eine Art Übersprungsemotion ist, die das klare Urteil über das, was eigentlich geschehen ist, verhüllt" Schuld kann nur da sein, wo ich sie als Verstoß gegen eigene Werte erkenne. Sonst reduziert sich Schuld zum Verstoß gegen einen nicht verinnerlichten Normenkatalog.
Sie hat dann keine Substanz, keinen Wert, bleibt mir fremd im kindlich "schlechten Gewissen".
Was mir beweist, dass Glauben nur von Belang ist, wenn er aus der lebenslangen Auseinandersetzung des eigenen Suchens kommt und nicht aus der Erziehung. Und jede Suche sollte offen sein. Das ist ja ihr Eigentliches, und das finde ich wegen des Abenteuers so lebendig.
Der Blitz, von dem Sie sprechen, kann erst auf dem Hintergrund der Dunkelheit gesehen werden. Er ist nicht zu berechnen, und die Dunkelheit hat dadurch ihren Wert. Der Blitz ist sehr eigen und nie harmlos! Er treibt unsere Fragen weiter, bis er alles und uns insbesondere erhellt. Dann hat er und die Dunkelheit ihr Ziel erreicht. Aber das kann hier im Fluss nicht geschehen, das glaube ich.
Ich grüße Sie herzlich,
A. R.
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