Norwegen Fokstugu An dem stillgelegten Bahnhof Fokstugu Gefangene bei einem Spaziergang
Espen Eichhöfer/Ostkreuz
Schritte in die Welt da draußen
Häftling Nr. 26 und fünf andere schwere Jungs, verurteilte Räuber, Schläger und Drogendealer, arbeiten auf einem entlegenen Gutshof im norwegischen Hochland. Sie machen Brennholz – in aller Freiheit. Keine Gitter, keine Mauern. Vier Tage lang. Dann geht’s wieder zurück in den Knast.
06.02.2014

Häftling Nr. 26 stapft bergauf durch knietiefen Schnee, als zöge ihn eine Lok. Auf der ersten Kuppe steckt er eine Zigarette an. Auf der zweiten Kuppe lässt er sich rücklings ins Weiß fallen. Auf der letzten Kuppe hält er inne und schaut übers weite Land. Es ist sein Land, Norwegen, aber in den letzten 15 Jahren hat Nr. 26 davon wenig mehr gesehen als einen dunk­len Fichtenwald.

Bjørn Høglund ist Häftling Nr. 26

Bjørn Høglund, 34, Insasse des Gefängnisses Ilseng in Ostnorwegen, 13 Mal verurteilt wegen Drogen, Raubzügen, Überfällen, befindet sich auf einer ungewöhnlichen Reise. Mit fünf weiteren Häftlingen wohnt und arbeitet er vier Tage lang auf ­dem entlegenen Gutshof Fokstugu im Hochland südlich von Trondheim: ein Dutzend Häuser, sonst nichts, in einem kilometer­weiten Tal. Kein Stacheldraht, keine Mauern.

In Norwegen glauben viele, Bjørns Ausflug sei Teil eines Puzzles, das, sorgfältig zusammengesetzt, ein 14. Urteil gegen ihn verhindern wird. Sie glauben, dass die vielen Freiheiten, die das liberale norwegische Strafsystem gewährt, ihm helfen, die Regeln außerhalb der Gefängnismauern einzuüben: das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Eigentum anderer zu respektieren, einer legalen Arbeit nachzugehen, Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die diese Regeln ebenfalls befolgen.

In Norwegen verbüßt jeder dritte seine Strafe unter liberalen Bedingungen

Wie kaum ein anderes Land der Welt hat sich Norwegen der Idee des offenen Vollzugs verschrieben. Die in den 1970er Jahren entwickelte Alternative zum streng abgeriegelten Gefängnis beruht auf der Annahme, dass die Haft neben ihren ursprünglichen Funktionen – Strafe und Abschreckung – auch dazu beitragen sollte, dass Verurteilte nach dem Ende ihrer Strafe ihre kriminelle Karriere nicht fortsetzen.

Anders als etwa im Hochsicherheitstrakt, dessen Insassen ihre Zellen oft nur für eine Stunde am Tag verlassen dürfen, gehen die Häftlinge von Ilseng außerhalb des Gefängnisses arbeiten. Sie zimmern Gartenhäuschen, lernen Englisch, treten im Fußballturnier gegen andere Gefängnisse an. Es wäre leicht zu fliehen, aber würden sie gefasst, brächte man sie zurück in eine Anstalt mit verschlossenen Toren und strengen Vorschriften. In Norwegen verbüßt etwa jeder dritte seine Strafe unter derart liberalen Bedingungen (in Deutschland ist es etwa jeder sechste).

Ein Wintermorgen im Fjell, dem norwegischen Hochland, die Sonne gleißt auf der Schneedecke, aus der Birken ragen. Der Arbeitstag der Gefangenen beginnt um neun Uhr. In schweren Stiefeln und einem schwarzen Overall zerkleinert Bjørn, ein wortkarger Hüne mit glattrasiertem Schädel, Stämme mit einer Kettensäge. Die Arbeit in der Kälte sei härter, als im Gefängnis den Flur zu wischen. "Aber es fühlt sich gut an, etwas Nützliches zu tun."

Als er etwa 16 war, lernte Bjørn, dass die coolen Jungs an der Schule nicht arbeiteten, sich aber trotzdem alles kaufen konnten. Bjørn wollte das auch, schnelles Geld. Sie zeigten ihm, wie man Leuten in ihre Häuser folgt und an die Autoschlüssel kommt. Einen neuen BMW tauschte er beim Hehler gegen 100 Gramm Amphetamin ein. Einen Teil der Drogen nahm er selbst, das meiste verkaufte er. Er begann, Geschäfte auszurauben, brach in Büros ein, stahl Computer.

Die 13 Urteile, die seitdem gegen ihn er­gingen, verbüßte er in zehn Haftstrafen. Bjørn kann die Abfolge seiner Vergehen selbst kaum nachvollziehen. Sie haben sich zu einem Dickicht verflochten, in dem er sein ganzes Erwachsenenleben lang festhing. Gefängnis, Freiheit, Drogen, Rückfall. "Ich bin so müde von diesem Hin und Her."

"Für viele der Männer ist es eine neue Erfahrung, gleichberechtigter Teil einer Gruppe zu sein"

Diesel jagt durch Treckermotoren, die Luft ist schwer von Abgas. Die sechs Häftlinge schleppen Stämme, spalten Holzstücke, schichten Scheite auf, verbrennen Strauchwerk. Jeder Arbeitsschritt baut auf einem anderen auf, von der Birke zum Sack mit Brennholz, ein geregelter Ablauf. Wer sich nicht an die Regeln hält, behindert die anderen. Auch die beiden mitgereisten Gefängniswärter packen an. Als Arbeitskollegen, nicht als Aufseher.

Die Häftlinge bei der Arbeit im Wald – sie spalten Baumstämme

Ein schmaler Mann mit raspelkurzem Haar und stoppeligen Wangen sortiert die dürren Äste aus und wirft sie in ein Feuer. Er arbeitet bedächtiger als die Gefangenen, er ist mehr als doppelt so alt wie der Jüngste von ihnen. "Für viele der Männer ist es eine neue Erfahrung, gleich- berechtigter Teil einer Gruppe zu sein und auf Augenhöhe behandelt zu werden", sagt Kjell Arnold Nyhus, der Gefängnispfarrer von Ilseng. Er begleitet die Häftlinge, die Tage im Fjell waren seine Idee. Sieben Mal ist er bisher mit Gefangenen auf den Hof gekommen.

Es ist eine Sonderform des offenen Vollzugs, eine Art pädagogisch wertvoller Hafturlaub, Tür an Tür mit den Wirtsleuten, und die Türen stehen ständig offen. Die Gefangenen werden nicht mit Nummern aufgerufen wie in Ilseng, sondern mit ihren Namen. Die Wärter, die gewöhnlich in Uniform den Gefängnisflur abriegeln, tappen auf dem Weg zur Dusche halb­nackt an ihnen vorbei. Den Häftlingen wird vertraut, und sie müssen beweisen, dass sie das Vertrauen verdienen.

Nyhus zählt vier Gründe auf, warum die Fahrt den Gefangenen helfe, sich nach ihrer Entlassung in der Gesellschaft zurechtzufinden. Die Arbeit im Wald ist einer davon: Im Tausch gegen das Brennholz, das sie herstellen, dürfen sie kostenlos auf dem Hof übernachten. Leistung und Gegen­leistung, ohne dass einer zuschlägt.

Die fünf anderen Gefangenen haben ähnliche Führungszeugnisse wie Bjørn, sie begannen ihre kriminelle Karriere so früh, dass sie diesen Grundsatz nie kennengelernt haben (nur der älteste hat Steuern hinterzogen, ihn hat Nyhus wegen seines ausgleichenden Wesens mitgenommen).

Der zweite Grund, aus dem er die Männer auf den Hof bringt, ist die Küche. Sie müssen gemeinsam über den Speiseplan entscheiden, die Einkäufe besorgen, täglich drei Mahlzeiten zubereiten. Viele von ihnen, sagt Nyhus, wüssten nicht, wie man für neun hungrige Männer kocht. "Wenn sie das schaffen wollen, müssen sie lernen zusammenzuarbeiten."

Mittags wird gemeinsam gekocht und gegessen

In Deutschland wird jeder dritte Häftling innerhalb von drei Jahren rückfällig, in Norwegen nur jeder fünfte

Die zwei, die an diesem Mittag Küchendienst haben, wickeln Speck um grünen Spargel, schneiden Rinderfilet in zwei Finger breite Scheiben. Später, als die Gefangenen mit Nyhus und den Wärtern an einer langen Holztafel speisen, zieht eine Wolke aus verbranntem Fett durchs Haus. Die Männer stören sich nicht daran. Im Gefängnis gebe es alle zwei Wochen das gleiche Essen, sagt Bjørn. "Hier kaufen wir uns alles, was es dort nicht gibt."

Manche – in Deutschland gibt es mehr von ihnen als in Norwegen – finden, Menschen, die Verbrechen begangen haben, sollen nicht Spargel im Speckmantel essen. Sie sollen büßen. Wer diese Ansicht vertritt, sieht in der Gefängnishaft in erster Linie eine Strafe, ein Werkzeug, um abzuschrecken und die Gesetzestreuen vor den Verbrechern zu schützen.

Die Verfechter des offenen Vollzugs dagegen glauben, dass man Gefangene allmählich an die Welt draußen heranführen sollte, statt sie beinahe rund um die Uhr einzusperren – unter der Bedingung, dass sie als ungefährlich und besserungswillig gelten.

Die meisten Kriminologen sind sich einig, dass Häftlingen aus dem offenen Vollzug die Wiedereingliederung in die Gesellschaft leichter fällt als jenen, die unmittelbar aus dem geschlossenen Vollzug entlassen werden. In Deutschland wird jeder dritte Häftling innerhalb von drei Jahren rückfällig, in Norwegen ist es nur jeder fünfte. Aber es gibt keine Studien, die eindeutig nachweisen, dass dies dem offenen Vollzug geschuldet ist: Faktoren wie Wohlstand oder Bildung könnten die Zahlen ebenso beeinflussen wie das Strafsystem.

Bei Bjørn Høglund hat dieses System bereits zehnmal versagt. Ein anderer aus der Gruppe sitzt zum dritten Mal, ein weiterer schlug nach zehn Jahren Haft einem Nebenbuhler einen Bierkrug auf den Schädel und kam zurück ins Gefängnis.

Es sind diese beiden, mit denen Bjørn am Nachmittag – die Häftlinge haben frei – über die verschneiten Hügel wandert. Stumm stapfen sie bergauf, jeder sucht einen eigenen Weg. Zigarettenpause. "Es fühlt sich gut an, so lange geradeaus ­laufen zu können, wie du willst", sagt der eine. Der Rundgang entlang dem Gefängniszaun von Ilseng misst 376 Meter.

Auf der höchsten Kuppe angekommen, tritt der andere die Tür des Bunkers ein, der ins Innere des Bergs gegraben ist. Dann nimmt er seinen Mitgefangenen in den Schwitzkasten und gibt ihm eine Kopfnuss. Bjørn steht daneben und erzählt, wie er während eines Ausgangs einmal ausgebrochen und 14 Tage lang bei einem Freund in Oslo untergetaucht sei. Warum? "Rock ’n’ Roll."

Keiner der Gefangenen sagt, dass er seine Verbrechen bereut. Bjørn erklärt, er könne nicht ständig darüber nachdenken, was er getan oder nicht getan habe. Er ­wolle seine Vergangenheit hinter sich lassen. "Für mich ist das vorbei."

Sven redet nicht über seine Taten – oder über seine Gesinnung

Wie es den Gefangenen in Freiheit ergeht, erfährt Nyhus fast nie

Als er angefangen habe, als Gefängnispfarrer zu arbeiten, sagt Nyhus, habe ­er gehofft, er könne die Häftlinge zu besseren Menschen machen. "Aber es ist sehr schwer, sein Leben zu ändern." Oft habe er die falschen Gefangenen mitgenommen. Einige seien zu egoistisch gewesen für die Arbeit im Team, andere zu aggressiv. Bei einer ähnlichen Fahrt eines anderen Gefängnisses gab es Kämpfe zwischen Häftlingen.

"Mit den Jahren habe ich gelernt, meine Erwartungen anzupassen." Heute, sagt Nyhus, wolle er diejenigen, die bereit seien, mit ihrem alten Leben zu brechen, ermuntern weiterzugehen – aber wie es den Gefangenen in Freiheit tatsächlich ergeht, erfährt er fast nie.

Zweimal am Tag spricht er mit ihnen über ihre Taten, über Schuld und Hoffnung. Diese Gesprächsrunden sind der dritte Grund für die Reise. Bjørn sagt, sie seien der wertvollste Teil. Nyhus höre zu, frage nach, verstehe. Und die anderen Gefangenen offenbaren: Sie sind nicht unverwundbar (bei diesen Gesprächen lässt Nyhus keine Besucher zu).

Am Abend schauen sie gemeinsam ­einen Film an. In ihrer Wohnküche hat die Wirtin ein Miniaturkino eingerichtet. Die Familie lebt in elfter Generation auf dem Hof, der Fernseher hängt neben einem jahrhundertealten Buffetschrank und einem Stapel Bildbände über Kunst und Architektur.

Schweigend lassen sich die Häftlinge auf Holzstühlen nieder, die zu einer aufrechten Haltung zwingen und verfolgen den Film – ein düsteres Werk über einen Jungen, dessen Vater sich nicht im Griff hat und die Mutter schlägt – mit auf Teilnahmslosigkeit trainierten Mienen.

Privat

Espen Eichhöfer

Espen Eichhöfer, geboren 1966 in Nesbyen, Norwegen ist Fotograf. Von 1992 bis 2000 studierte er Kommunikationsdesign in Essen. Seit 2006 ist er Mitglied bei der Agentur "Ostkreuz". Er lebt und arbeitet in Berlin.

Nach dem Gruppengespräch sagt Bjørn, er habe als Kind selbst erlebt, wie sein Stiefvater seine Mutter misshandelt habe. Es tue gut, mit den anderen über deren Vergangenheit zu sprechen. Darüber, warum sie eines Tages anfingen, zu schlagen und zu rauben. In einer Holzhütte in den Bergen, fernab vom Gefängnisalltag, sei das leichter als in dem kahlen Besprechungszimmer von Ilseng.

Ein gemeinsamer Abend der Häftlinge mit dem Gefängnispfarrer Kjell Arnold Nyhus in der Kapelle

In der langen Dämmerung nach dem Abendessen stapfen die Häftlinge zwischen den Gutsgebäuden aus weiß getünchtem Holz zu einer Hütte hinüber, deren Dach von Gras bewachsen ist, auf dem First zwei gekreuzte Äste. Die Kapelle ist der vierte Grund, warum Nyhus mit ihnen nach Fokstugu kommt. Sechs Männer, die Menschen ins Krankenhaus geprügelt oder drogensüchtig gemacht haben, sitzen still vor einem winzigen hölzernen Altar mit einem verrosteten Kreuz.

Nyhus, im Norwegerpulli und verwaschenen Jeans, hockt am Rand auf einem Holzstuhl. Seine Predigten bestehen zu einem Großteil aus Schweigen. Er hängt ein paar Worte in der Luft auf. Die arbeiten dann für ihn. "Gud er lys, og det er intet mørke i ham." Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.

Den Kontakt zu seinen alten Freunden hat er abgebrochen

Jeder der Männer hat einen weißen Kiesel bekommen, der tagsüber schlechte Energie aufsaugen und abends an einen Felsbrocken unter dem Altar abgeben soll. Bjørn sagt, er mache sich nicht viel aus derlei Bräuchen. Als er seinen Kiesel auf dem großen Stein ablegt, hält er inne und schiebt ihn mit dem Zeigefinger in eine Mulde im Fels, wo er fest liegt.

Bjørn hat im Gefängnis Aggressionsbewältigungs- und Suchttherapien mitgemacht. Er sagt, den Kontakt zu seinen alten Freunden habe er abgebrochen. Wenn er draußen sei, wolle er in Teilzeit arbeiten, als Fahrer in einem Warenlager. In der freien Zeit werde er wieder zur Schule gehen, Englisch und Mathematik lernen. "Ich glaube, dass Bjørn entschlossen ist, mit den Drogen aufzuhören und ein neues Leben zu beginnen", sagt Kjell Arnold Nyhus.

Als die Gefangenen Fokstugu an einem Freitagmorgen verlassen, bläst ein hässlicher Wind aus dem Fjell herab, verwischt Spuren, verzerrt Konturen, überzieht die Welt mit Schnee. Wenn er geschmolzen ist, wird Bjørn ­in Freiheit sein.

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