Kapernaum. Johann Graßer hält sich abseits. Der pensionierte Polizist ist bereits das 18. Mal in Israel unterwegs. Diesmal nicht im klimatisierten Bus, sondern zu Fuß. Am Pfingstsamstag ist er in St. Wolfgang in Bayern losgelaufen. 188 Tage und 4500 Kilometer später steht Graßer nun vor den Ruinen der Stadt Jesu.
###mehr-extern###Vor einem Jahr hatte der 63-Jährige eine Dokumentation im Fernsehen gesehen: Drei Österreicher berichteten von ihrer Wanderung nach Jerusalem. Graßer erinnerte sich an einen Jugendtraum. Bereits als Schüler wollte er in die Heilige Stadt wandern. Dann kamen Heirat, vier Kinder und die Karriere als Dienststellenleiter dazwischen.
Am 18. Mai hatte der Rentner eine Hose und ein Hemd zum Wechseln in einen Rucksack gepackt und sich auf den Weg gemacht. Die Erzdiözese Wien hat ihm den ersten Pilgerpass für den neu begründeten „Jerusalemweg“ ausgestellt. Nun sind die Seiten voller Stempel von Kirchen in Österreich, Ungarn, Kroatien, Serbien, Kosovo, Mazedonien und Griechenland. Syrien fehlt. Wegen des Bürgerkriegs musste Graßer das Land umfahren, mit einem Schiff von der Türkei nach Zypern, von dort ist er nach Tel Aviv geflogen.
Über Berge, durch Sonnenblumenfelder und Wüsten ist Johann Graßer gewandert, im Schnitt 25 Kilometer pro Tag. Bis in die Füße hinein wollte er wieder spüren, dass er von Gott gelenkt wird – ein Gefühl, das in der Hektik des Alltags oft betäubt sei, sagt er. Angst habe er nie gehabt, im Gegenteil: „Mich hat die große Gast- freundschaft überrascht, vor allem in den ärmsten Gegenden.“ Im Kosovo bot ihm eine siebenköpfige Familie ein Nachtlager an – und Paprika aus dem Garten, ihr einziges Essen. In der Türkei wurde Graßer in manchen Dörfern alle hundert Meter auf einen Tee eingeladen.
Eigentlich weiß Graßer, dass man an den heiligen Orten nicht das findet, was man dort sucht: das Echte, Authentische, eine Art physische Nähe zur Welt des Jesus von Nazareth. In Kapernaum zückt ein Reiseleiter zwischen zwei bröckelnden Säulen sein iPhone und liest aus seiner Bibel-App vor. „In der Synagoge von Kapernaum hat Jesus gelehrt“, erklärt er dann einer Schar amerikanischer Senioren. „Wenn Sie gleich die Ruinen betreten, werden Sie über denselben Boden gehen. Das ist ein ganz besonderer Ort. Deswegen geben wir Ihnen hier 20 Minuten.“
Die Senioren stürmen los. Auf dem Parkplatz stehen bereits die nächsten Busse Schlange. Eine Gruppe Peruaner hat sich für die Reise zu den biblischen Stätten Israels eigens einen Satz neongrüner Trainingsanzüge schneidern lassen, auf dem Rücken ein flammendes Kreuz. Touristen aus Nigeria hören stets, wo ihre Gruppe sich gerade befindet – ihr Reiseleiter zieht mit einer Trommel voran.
„Mir wird langsam klar, dass meine bisherigen Israelreisen nur Tourismus waren“, sagt Graßer. Erst jetzt, mit schmerzenden Sohlen und knarzenden Knien, fühlt sich der Pensionär wie ein wahrer Pilger. Abends betet er für die Menschen, die ihm Briefe mitgegeben haben. Daheim arbeitet Graßer ehrenamtlich als Diakon; fast 40 Gebetsanliegen trägt er wasserdicht verpackt mit sich. Zerstrittene Familien, die auf Aussöhnung hoffen, Krebskranke, die um Heilung bitten. In Jerusalem will er sie in der Grabeskirche verlesen.
Pilger machen mit 26 Prozent die größte Touristengruppe auf
Auf seinem letzten Streckenabschnitt trifft Graßer einige Gleichgesinnte. Zwischen Galiläa und Jerusalem sind immer mehr Wanderer und Fahrradfahrer unterwegs, die dem Massentourismus ihr eigenes Tempo entgegensetzen. Der Staat Israel kümmert sich verstärkt um diese Individualreisenden, hat Wanderwege und Fahrradrouten ausgezeichnet.
Zudem versuchen die Fremdenverkehrsämter ein zahlungskräftigeres Publikum anzulocken: Besucher, die nicht bloß die Welt der Bibel bereisen wollen, sondern ein Wellness-Wochenende am Toten Meer einlegen, in den Clubs von Tel Aviv die Nächte durchfeiern oder in Jerusalem neben der Klagemauer auch Weinkeller aufsuchen. 2012 verzeichnete Israel 3,5 Millionen Besucher – so viele wie nie zuvor. Doch trotz aller Bemühungen, andere Touristengruppen zu erschließen, machen die Pilger mit 26 Prozent noch immer die größten Gruppe aus – vor denen, die Sightseeing (25 Prozent) und Erholung (9 Prozent) als Grund für ihre Reise angeben.
Tabgha. In der Brotvermehrungskirche des Benediktinerklosters stolziert eine junge Russin auf bleistifthohen Absätzen über das anderthalbtausend Jahre alte Mosaik. Wolfgang Kuhn wirft ihr einen grimmigen Blick zu. In einer Nische lässt er seinen Meißel auf dünne Platten weißen und schwarzen Marmors niedersausen. Rund 1000 Mosaiksteinchen schlägt Kuhn am Tag.
Der Fliesenleger aus Köln bessert den Boden mit den Fischen, Brotkörben, Blumen und Perlhühnern aus. An allen Enden bricht der Stein unter den Sohlen der gut 5000 Besucher täglich.
Seit 23 Jahren kommt Kuhn nun schon hierher. Drei Wochen im Winter, danach sei er ein anderer Mensch, sagt der 65-Jährige. Das stetige Schlagen, Mustern, Legen, „das entschleunigt“. Keine Sorgen um Kostenvoranschläge, komplizierte Kundenwünsche, kranke Angestellte. Das Handy hat er zu Hause gelassen. Seine Mitarbeiter müssen mal ohne ihren Chef auskommen.
Nach dem Abendgebet spaziert Kuhn den dunstverhangenen See Genezareth entlang. Hinter dem Kloster liegt ein Felsbrocken, darauf ein Kreuz. Den Platz der Speisung der Fünftausend (Matthäus 14,13–21) vermuten Historiker zwar an einer anderen Stelle des Ufers. Aber das, sagen die Mönche, spiele im Prinzip keine Rolle. Wichtig sei doch, dass man einen gemeinsamen Ort des Glaubens habe. Einen, an dem die Besucher verschnaufen können, bevor sie sich in Jerusalem wieder in den Trubel stürzen.
Jerusalem. An der Klagemauer prallt der Schall von Trommeln und Hörnern ab. Festlich gekleidete Familien feiern die Bar Mitzwa ihrer Söhne, sie sind jetzt religionsmündig. Auf dem Vorplatz beten Amische für Regen. Männer mit langen Bärten und Hosenträgern, Frauen in weiten Kleidern und weißen Kopftüchern, die in den USA großenteils ohne Strom und von traditioneller Landwirtschaft leben. Sie haben zum ersten Mal in ihrem Leben ein Flugzeug bestiegen, „um uns mit unseren jüdischen Brüdern und Schwestern zu versöhnen“, wie Bischof Ben Girod der Gruppe erklärt.
Die Besuchermassen verstopfen die Treppe zum Grab Christi
In ihrer Gemeinschaft habe es antisemitische Tendenzen gegeben; die meisten hätten noch nie etwas vom Holocaust gehört. Nun hat Girod die Reise organisiert, Gespräche mit Rabbinern, den Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Während die Gruppe aufbricht, bietet eine jüdische Mutter einer Amischen Gebäck an. „Darf ich dich umarmen?“, fragt die Amische. Die Frau nickt irritiert. „Gott segne dich.“
In der Grabeskirche staut sich der Strom. Frauen beugen sich über den Stein, von dem es heißt, Jesu Körper sei darauf gesalbt worden. Sie tröpfeln Öl über den Fels und rubbeln es mit einem Taschentuch ab, um etwas von der Heiligkeit mit nach Hause zu nehmen. An der letzten Station ist kein Durchkommen mehr. Die Besuchermasse hat die Treppe zum Grab Christi verstopft.
Johann Graßer hat sich vorgenommen, um Punkt vier Uhr morgens zu kommen, wenn das Tor zur Grabeskirche aufgeschlossen wird. Aber sollte selbst dann schon zu viel los sein, sagt er, sei das auch nicht weiter schlimm. Dann bete er eben in einem Park. Am Ende seiner Reise ist Graßer zu der Überzeugung gekommen, dass er diesen letzten Stempel in seinem Pilgerpass eigentlich gar nicht mehr braucht.