Wenn man den Bericht von Lukas über Jesu Geburt aller theologischen Bedeutung entkleidet – ein junges Paar, dessen erstes Kind in der Fremde, ohne Obdach, „mitten im kalten Winter“ in einem Stall geboren wurde –, ist es eine rührende, unsterbliche Familiengeschichte mit glücklichem Ausgang: Ochs und Esel geben dem Kind in der Futterkrippe Wärme, völlig überraschend bringen drei Könige Geschenke und vom Himmel tönt die Verheißung künftigen Glücks für alle. Ich konnte mir das schon als Kind gut vorstellen, denn in der Kriegs- und Fluchtzeit meiner Jugend spielten Geburten unter dramatischen Umständen in den Erzählungen der Erwachsenen eine aufregende Rolle.
Das gilt auch heute noch: Ein junges Paar kehrte nach der deutschen Wende auf das Gut der Eltern des Ehemanns östlich von Berlin zurück, in einem Wohnwagen, denn das Elternhaus war zerstört. Dort im Wohnwagen, in einer Scheune – „mitten im kalten Winter“–, brachte die Frau ihr erstes Kind zur Welt. Das Weihnachtsfest ist deshalb folgerichtig ein Familienfest, voller Erwartungen, geschürt durch die lange Ankündigung, die Adventszeit.
In meiner Kindheit war die Adventszeit noch kein Marketingspektakel des Einzelhandels. Wir lebten nach dem Krieg auf dem Land, auf einem Rittergut meiner Verwandten und am dritten Adventssonntag wurde im großen alten Schafstall ein Krippenspiel aufgeführt. Mitten zwischen den Schafen war eine kleine Bühne und ein Zuschauerraum abgeteilt. Zwei Weihnachtszeiten durfte ich den Josef spielen. Die Marias wechselten, aber in den beiden Jahren waren es die hübschesten Mädchen auf dem Hof. Mein jüngerer Bruder war einer der Hirten und steigerte sich im Folgejahr auf eine Hirtenrolle mit Text. Auch mein kleiner, jüngster Bruder spielte mit als Engel im weißen Nachthemd.
Lukas wusste noch nichts von einem Weihnachtsbaum
Die Tage – „Dreimal werden wir noch wach . . .“ – waren nicht nur mit der Vorfreude auf Geschenke erfüllt. Vielmehr verwandelte meine Mutter unsere Wohnung in eine Bastelwerkstatt. Alle Paten und näheren Verwandten erhielten selbst erschaffene Geschenke. Nach den frühkindlichen Buntstiftkritzeleien begann die lange Phase der Laubsägearbeiten. Die sieben Zwerge als Schlüsselbrett, Krippenfiguren und schwierig zu nutzende Kästchen mit ausgesägten Hirschen in den Seitenteilen. Viele Arbeitsgänge waren notwendig. Erst die Sägearbeit nach Mustern, dann das Abschleifen der Kanten, die Bemalung aus den Plaka-Farbtöpfchen – jeder Zwerg mit anderem Outfit, Maria mit blauem Kleid, Josef eher dunkelbraun – , weiter die Verstärkung der Konturen mit der Scriptolfeder und schließlich die wasserfeste Lackierung. Schöne Muster zum Schnitzen und Knetfiguren erweiterten unser Repertoire. Ein Foto von uns bei der Arbeit, veröffentlicht im Göttinger Tageblatt, hat sich erhalten.
Lukas wusste noch nichts von einem Weihnachtsbaum, aber zur Adventszeit gehörte bei uns die Suche nach einer besonders schönen Tanne, zwei bis drei Meter hoch je nach Zimmergröße. Meine Aufgabe war die Aufstellung in einen selbst genagelten schweren Holzfuß und die Optimierung des Baumes, wo eine Lücke im ebenmäßigen Wuchs sichtbar war. An solchen Fehlstellen wurden Tannenäste in Bohrlöcher im Stamm eingesetzt.
Aber die Hauptbeschäftigung galt natürlich dem Schmuck des Weihnachtsbaums. Meine Mutter behängte den Baum, einer Familientradition folgend, mit silbrigem Lametta. Das musste Faden für Faden geschehen, um den Eindruck einer verschneiten Tanne zu erwecken. Es war daher eine Untat, das Lametta heimlich einfach auf die Äste zu schmeißen. Zur weiteren Ausstattung gehörten Äpfel, denen ich statt der schwachen Stiele eine Schraube eindrehte, um sie mit bunten Bändern sicher an den Zweigen aufhängen zu können, natürlich auch Kerzen, rot, möglichst aus Bienenwachs, und Strohsterne. Auch die Krippe vor dem Baum kam aus der weihnachtlichen Bastelwerkstatt. Der Stall entstand aus alten Zigarrenkisten, das bekannte Personal wurde mit der Laubsäge erschaffen. Der Stern von Bethlehem leuchtete dank der Birne und Batterie aus einer Taschenlampe. Nach diesem weihnachtlichen Handwerkstraining habe ich später auf einer Internatsschule neben dem Abitur auch eine Tischlerlehre bewältigt.
Endlich wurde der Heilige Abend erreicht. Der begann natürlich mit einem Weihnachtsgottesdienst – Lukas 2, Vers 1 – und Weihnachtsliedern, vorzugsweise „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“. Auch zu Hause stand vor der sehnlich erwarteten Bescherung noch einmal das gleiche Ritual, Lukas und die Weihnachtslieder. Aber statt „O du fröhliche“ lieber „Macht hoch die Tür“ oder „Auf dem Berge, da wehet der Wind“ und „Es ist ein Ros entsprungen“. Ab dem Konfirmandenalter durfte ich als Erster in den Weihnachtsraum, von meinen Brüdern beneidet, um die Kerzen anzuzünden.
Care-Pakete von einer amerikanischen Quäker-Familie
Meine Lieblingsgeschenke waren Bücher, zum Beispiel die Jahrbücher „Durch die weite Welt“ oder „Das neue Universum“. Auch griechische Heldensagen und die Romane von Karl May gehörten dazu, zum Beispiel „Der Schatz im Silbersee“ oder die Winnetou-Trilogie. Aber das Geschenk, an das ich mich noch am stärksten erinnere, stammte vom letzten Weihnachtsfest in meiner Heimat Schlesien, 1944. Es war ein „Schuko“-Spielzeugauto, ein rotes Cabriolet mit Lenkung, Hupe, Gangschaltung, Handbremse und Schlüssel zum Aufziehen. Als wir kurz darauf auf die Flucht gingen, durfte jeder von uns Kindern ein Lieblingsspielzeug mitnehmen. Ich nahm das Schuko-Auto, mein jüngerer Bruder entschied sich für den Schlüssel zu seinem Kaninchenstall, damit seinen Lieblingshasen Muckerle und Schnuckel nichts Böses geschehe. Meine Mutter, eine Journalistin, hat diese und andere Fluchtgeschichten in den fünfziger Jahren aufgeschrieben und in Zeitungen veröffentlicht. Die Berichte gelangten auch in eine fromme amerikanische Zeitung und völlig überraschend schickte uns eine Quäkerfamilie aus den USA Care-Pakete.
Es war wie bei Lukas und der Geschichte von den Heiligen Drei Königen. Nur dass in den Paketen kein Gold, Weihrauch oder Myrrhe verpackt waren, sondern Kaffee, Corned Beef und Blockschokolade!