chrismon: Frau Coenen-Marx, warum brauchen wir ein neues Sozialwort?
Cornelia Coenen-Marx: Einige Probleme in unserer Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahren verschärft, die Debatte über Gerechtigkeit ist neu entbrannt. Immer mehr Menschen haben den Eindruck, dass das Wirtschaftswachstum zu Lasten ihrer Löhne und der Sicherheit am Arbeitsplatz geht.
Welche Menschen sind das?
Vor allem die Beschäftigten im Niedriglohnsektor fühlen sich abgehängt. Werkverträge, wie es sie in der Fleischindustrie häufig gibt, sind einer so reichen Gesellschaft wie unserer nicht würdig.
Ist Arbeit nicht immer besser als Arbeitslosigkeit?
Ja, die Kirchen haben immer gesagt, Arbeit gehört zum Menschsein. Wer Arbeit hat, nimmt am gesellschaftlichen Leben teil und kann mitgestalten. Deswegen muss man aber nicht jeden Missstand hinnehmen. Außerdem: Wer einen unsicheren Job hat, gründet nicht so schnell eine Familie. Und im schlimmsten Fall droht später Altersarmut.
Und es gibt immer mehr Alte.
Ja, der demografische Wandel ist nicht aufzuhalten. Hinzu kommt: Viele Menschen sind im Alter allein. Familien sind nicht mehr so stabil wie früher, allein wegen der zunehmenden Mobilität. Da müssen wir uns künftig viel mehr auf ehrenamtliches Engagement verlassen, was zum Glück heute schon gelingt: Gerade Ältere setzen sich fürs Gemeinwesen ein.
Im neuen Sozialwort geht es auch um Migration.
Wenn wir den Lebensstandard in unserer alternden Gesellschaft halten wollen, sind wir auf Einwanderer angewiesen. Aber heißen wir sie auch willkommen – oder bauen wir ihnen Hürden auf? Mit kultureller Vielfalt und mit anderen religiösen Traditionen klarzukommen, das ist für viele immer noch eine Herausforderung. Auch für die Kirchen.
Inwieweit hat die Wahl von Papst Franziskus die Arbeit am Sozialwort beeinflusst?
Sie hat die Atmosphäre verändert. Allein die Tatsache, dass sich der neue Papst für Arme, für Gerechtigkeit engagiert, zeigt: Die Kirche soll bei sozialen Fragen Stellung beziehen. Wir haben da eine lange Tradition, uns wird Kompetenz zugesprochen. Zu Recht, wie ich finde.