Nie mehr sitzen bleiben
Die Direktorin will die Schule neu erfinden, der Kultusminister plädiert für Reformen innerhalb des Systems

Frau Riegel, wir sitzen hier in einem Klassenraum des Evangelischen Schulzentrums Leipzig. Taugt dieses Klassenzimmer für guten Unterricht?

Enja Riegel: Hier kommt der Lehrer rein, wahrscheinlich schreibt er etwas an die Tafel, die Schüler müssen es abschreiben, und nach 45 Minuten geht er wieder raus. Wenn das die vorherrschende Form ist, dann ist es schlechter Unterricht.

Jan-Hendrik Olbertz: Woraus schließen Sie das?

Riegel: Ich sehe eine nach vorne ausgerichtete Sitzordnung, ein paar Bilder an der Wand und in den Regalen einzelne Ordner. Ich vermisse anregende Materialien und die Präsentation von Arbeitsergebnissen. Ich vermisse eigentlich alles, was zu einem lebendigen, selbständigen Lernen von Schülern gehört.

Olbertz: Wissen Sie, was ich vermisse? Schüler und Lehrer. Denen würde ich eine Zeit lang zuschauen und mich erst dann trauen, den Unterricht zu beurteilen. Sehen Sie da hinten die Kehrschaufel und den Besen? Das ist anregendes Material. Es kommt nur darauf an, etwas damit zu machen. Wenn jetzt eine Gruppe von Schülern hereinkäme, würde die sich bei mir trotz der Raumausstattung nicht langweilen.

Frau Riegel, stellen Sie sich vor, Sie säßen auf dem Stuhl des Ministers. Was würden Sie als Erstes anpacken, um die Schulmisere zu überwinden?

Riegel: Das habe ich mir schon oft vorgestellt. Wenn ich die Kultusministerin von Sachsen-Anhalt wäre, würde ich als Erstes die Trennung in Haupt- und Realschule ab Klasse 7 abschaffen. Ich bin nicht blauäugig und weiß, dass ich die Abschaffung des Gymnasiums nicht gegen die Elternschaft und die Mehrheitsverhältnisse durchsetzen könnte. Wenn ich jedoch frei wäre, sollten alle Schüler gemeinsam bis Klasse 8 oder 9 lernen. Zweitens würde ich mehrere Schulen zu Versuchsschulen machen, drittens die Lehrer dazu ermutigen, Teams zu bilden, und viertens das Sitzenbleiben abschaffen.

Olbertz: Sie würden also das Gymnasium nur aus pragmatischen Gründen aufrechterhalten?

Riegel: Ja. Ich würde den Zeitpunkt, an dem die Kinder getrennt werden, nach hinten schieben und die Entscheidung über die Schulform erst nach der achten Klasse treffen.

Olbertz: Bildungspolitisch finde ich das fantasielos. Diese Strukturdebatte hat uns seit den Siebzigerjahren von couragierten inneren Schulreformen abgehalten. Sobald es Schwierigkeiten gibt, treten die Polarisierer auf den Plan und sagen, wir müssten nur das dreigliedrige Schulsystem abschaffen und schon wäre alles in Ordnung.

Jan-Hendrik Olbertz: „Jedes Kind kann etwas. Es gibt niemanden, der nichts kann“

Arbeiter- und Migrantenkinder haben in Deutschland viermal schlechtere Chancen, Abitur zu machen, als Akademikerkinder, in Ländern wie Finnland ist das anders. Was spricht noch für das dreigliedrige Schulsystem?

Olbertz: In allen Schulformen gibt es gute und schlechte Schulen. Es wäre unverantwortlich, angesichts der Rückstände der deutschen Schule auch noch einen weitreichenden Systembruch zu organisieren. Deshalb mache ich die fortwährenden Neuauflagen dieser Strukturdebatte nicht mit. Wir sollten die Schulen zunächst im Innern modernisieren.

Riegel: Die Hauptschule gehört abgeschafft. Sie ist ein Unglück für Kinder.

Olbertz: Glauben Sie, dass wir Schüler und Eltern ermutigen, wenn wir öffentlich eine Schulform stigmatisieren?

Riegel: Die Hauptschule ist schon stigmatisiert. Dort sind Kinder, die Schwierigkeiten beim Lernen haben, Kinder aus schwierigen Elternhäusern. Das ist ein Getto der Verlierer, die keine Aussicht auf eine Lehrstelle haben.

Olbertz: Aber was haben Sie erreicht, wenn Sie die Hauptschulen abschaffen? Dann ist die Hauptschule weg, aber die Schüler sind noch da, die dort am besten gefördert werden könnten. Ich befürworte homogene Lerngruppen, weil ich da erreichbare Ziele für alle formulieren kann. Und weil sich dort auch Erfolge für alle einstellen und man nicht ständig die seelischen Wunden der Kinder heilen muss, die nicht mitkommen.

Riegel: Ich berate mehrere Hauptschulen, die ähnliche Probleme mit Schülern haben wie die Rütli-Schule in Berlin. Wenn zu viele schwierige Kinder beisammen sind, was Deutschkenntnisse, Herkunft oder Leistungsvermögen angeht, ist es sehr schwer, guten Unterricht zu machen. Denn diese Kinder können sich untereinander wenig Anregungen geben. Wenn hingegen unterschiedlich begabte Schüler gemeinsam lernen, profitieren alle, auch die guten. Wenn ein Hochbegabter von einem schwächeren Schüler eine einfache Frage gestellt bekommt und er so antworten kann, dass der Fragende das versteht, dann hat er auch selbst dazugelernt.

Olbertz: Das Credo einer Schule muss lauten: Es gibt niemanden, der nichts kann, und niemanden, der alles kann. Jedes Kind kann etwas. Diese Überzeugung hat ihre Wurzeln in meiner Schulzeit. Als Schüler hatte ich auch nur durchwachsene Leistungen. Ich konnte zum Beispiel überhaupt keinen Sport und musste deshalb manche Demütigung über mich ergehen lassen. Schule muss Kinder in dem bestärken, was sie können, und darf sie nicht danach sortieren, wie hoch sie springen können.

Herr Professor Olbertz, hätten Sie eines Ihrer drei Kinder auf eine Haupt- und Realschule geschickt?

Olbertz: Sicher, wenn es eine gute Schule ist. In Sachsen- Anhalt gibt es allerdings keine eigenständigen Hauptschulen. Ich habe versucht, die Schule zu finden, die am besten auf die Stärken und die Schwächen des Kindes eingeht. Deshalb bin ich froh, dass wir keine nivellierte Einheitsschule haben. Allerdings darf die Entscheidung für eine Schulform nicht endgültig sein. Und oft gibt es diese Durchlässigkeit in der Praxis nicht.

Enja Riegel: „Die meisten Lehrer stehen zu viel vorne und belehren!“

Erstickt nicht jede Schulreform schon an den überfrachteten Lehrplänen?

Olbertz: Das ist eines der großen Defizite. Wir müssen den Mut haben, zu einem überschaubaren Kanon von konstantem Grundwissen zurückzukehren.

Riegel: Im Schulalltag stöhnen die Lehrer, weil sie den Lehrplan nicht schaffen. Dabei sollen sie guten Unterricht machen und nicht einen Plan erfüllen!

Olbertz: Für mich lautet angesichts der enormen Wissensdynamik die entscheidende Frage: Welches Wissen veraltet nicht? Wenn die Kinder in der Schule etwas gelernt haben und nach Hause kommen, möchte ich als Vater und Großvater sagen können: Das habe ich auch gelernt, zeigt mal her! Dazu zähle ich zum Beispiel das Periodensystem der chemischen Elemente, die Geschichten der Bibel und die Grimm’schen Märchen, weil die Werte, die sie vermitteln, über Generationen gültig sind. Und das muss der Lehrer mit Hilfe moderner Unterrichtsmethoden vermitteln.

Riegel: Eine Kultur muss sich über die wichtigen Geschichten verständigen können. Dazu gehören die Revolution von 1848, die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, die Französische Revolution. Aber es muss keinen Durchmarsch durch die Geschichte von den Griechen bis heute geben.

Olbertz: Ich bin schon dafür, dass Kinder eine komplizierte Parabelfunktion berechnen können. Aber vorher müssen sie die Grundrechenarten beherrschen. Ich bin klipp und klar gegen den Taschenrechner in der Grundschule! Meine Kinder, die alle über zwanzig Jahre alt sind, beherrschen nur unter Schwierigkeiten die schriftliche Division. Das ist inakzeptabel.

Jeder vierte Fünfzehnjährige beherrscht nicht einmal die Grundlagen in Rechnen und Schreiben.

Olbertz: Da hilft nur eine radikale Überarbeitung der Lehrpläne. Das Grundwissen muss man lange genug üben und festigen.

Rechnen- und Schreibenlernen kann ganz schön anstrengend sein. Muss Schule eigentlich Spaß machen?

Riegel: Schule ist keine Spaßveranstaltung. Aber wenn Kinder selbst etwas erforscht und eine große Leistung erbracht haben, dann empfinden sie Befriedigung und Freude.

Olbertz: Wenn Spaß an Erkenntnissen und Miteinanderlernen gemeint ist, dann kann sie Spaß ohne Grenzen machen.

Riegel: An meiner Schule haben Schüler mit Künstlern zusammen sehr viel Theater gespielt – manchmal vier Wochen lang. Keine Klassenarbeit, keine Hausaufgaben, aber von morgens bis abends und sogar am Wochenende fürs Theater geschuftet. Wenn dann Premiere war, haben sie gemerkt: Oh, ich kann was! Das ist eine tiefe Befriedigung und ein Schatz fürs ganze Leben.

Leiden darunter nicht die Leistungen der Schüler in den regulären Fächern?

Riegel: Im Gegenteil. Schüler, die von Klasse 5 bis 10 zusammengenommen drei bis vier Monate Theater gespielt haben, sind nach dem Wechsel in die gymnasiale Oberstufe entscheidend besser als andere Schülergruppen. Das haben Studien ergeben. Das liegt daran, dass sie schwierige Situationen gemeistert haben. Alle unsere Schüler machen ein vierwöchiges Sozialpraktikum in Altersheimen, wo sie alte Menschen waschen, füttern, wo sie manchmal sogar beim Sterben dabei sind. Die kommen zurück und sind einen Kopf größer. Die sagen: Ich werde gebraucht. Ich kann etwas.

Jan-Hendrik Olbertz: „Es gibt guten und es gibt schlechten Frontalunterricht“

Das Gegenteil davon ist der Frontalunterricht, in dem vor allem Stoff gepaukt wird. Warum ist der immer noch die Regel, Herr Olbertz?

Olbertz: Ob das so ist, kann ich nicht beurteilen. Außerdem gibt es guten und schlechten Frontalunterricht. In Deutschland wird die Qualität des Unterrichts kaum untersucht.

Riegel: Ich hospitiere im Jahr in zirka fünfzig Schulen. Zu neunzig Prozent steht der Lehrer vorne und belehrt. Der Lehrer spricht fast die ganze Zeit und die Schüler geben Ein-Wort-Antworten. Eine Phase der Belehrung ist in Ordnung, aber danach müssten die Schüler die Möglichkeit haben, untereinander ins Gespräch zu kommen, in kleinen Gruppen zu üben.

Olbertz: Aber auch das geht nur, wenn der Lehrer das Geschehen anregt und moderiert. Deshalb bin ich weder für noch gegen Frontalunterricht, ich bin für guten Unterricht, für vielfältige und moderne Unterrichtsmethoden. Und da hat die deutsche Schule erhebliche Mängel.

Ob der Unterricht gut ist, hängt vor allem vom Lehrer ab. Es gibt viele gute Lehrer...

Olbertz: ...aber nicht genug.

Und es gibt demotivierte Lehrer – auf Kosten der Kinder. Schluss mit dem Beamtentum für Lehrer?

Olbertz: Ja! Jedenfalls in der durch das Beamtenrecht vorgegebenen Form.

Riegel: Auch ich stimme sofort zu. Ich weiß aus Untersuchungen, dass immer noch zu viele Lehrer ihren Beruf wählen, weil sie Beamte werden wollen. Haben Sie verbeamtete Lehrer in Sachsen-Anhalt?

Olbertz: Nur einen kleinen Anteil.

Riegel: Ich hätte als Schulleiterin gerne mal dem einen oder anderen Lehrer gekündigt. Es gibt nämlich Lehrer, die machen ihre Arbeit schlecht. Ein guter Lehrer muss mit einer Leidenschaft für ein Fach in die Schule kommen und die Kinder anstecken. Und er muss jedes Kind auf seinem Niveau fördern können.

Olbertz: Da sind wir weitgehend einer Meinung.

Herr Olbertz, ist die Helene-Lange-Schule für Sie ein Modell?

Olbertz: Ich kenne die Schule nicht aus eigener Anschauung. Aber was ich über sie gehört und gelesen habe, macht mich eher stutzig. Eine Schule ganz ohne Probleme und Konflikte kommt mir wie ein der normalen Welt entrücktes Arkadien vor.

Riegel: Wenn Lehrer im Team arbeiten und sich als Erzieher verstehen, dann kann Schule auch ein Arkadien für Kinder sein.

Olbertz: Frau Riegel, ein Credo von Ihnen lautet: Nicht Fächer, sondern Schüler unterrichten! Solche Sätze hauen mich um. Man kann sich doch Fachunterricht gar nicht ohne Schüler vorstellen. Und Sie wissen, dass die Schlussfolgerungen, die aus den PISA-Tests gezogen wurden, nicht korrekt waren. Da hieß es, die Helene-Lange-Schule hätte Traumergebnisse erzielt, die über denen von Spitzenländern wie Finnland oder Korea lägen. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat dies zurückgewiesen, schon weil eine Einzelschule nicht mit einem ganzen Schulsystem verglichen werden kann.

Riegel: Die Ergebnisse lagen weit über den für diese Schule erwarteten Werten.

Olbertz: Auf jeden Fall habe ich Respekt vor erfolgreichen Schulen, und die müssen wir wieder mehr würdigen. Sicher ist Ihre Schule eine davon.

Riegel: Deshalb auch mein Vorschlag: Machen Sie ein paar Schulen zu Versuchsschulen! Auch Volkswagen hat eine Entwicklungsabteilung.

Olbertz: Ich zeige der Presse gern gute Schulen, damit auch die mal in den Medien vorkommen – und nicht nur Horrorszenarien. Unsere Schulen brauchen vor allem Ermutigung.

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