In diesem Jahr wird die Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda vorerst beendet. Dorfgerichte haben mitgewirkt. War das richtig? Fragen an einen beratenden Juristen
07.10.2010

chrismon: Warum kommen Straftaten während des Völkermordes in Ruanda vor Gacaca, also Dorfgerichte?

Mathias Mühlhans: Nach 1994, also nach dem Genozid an den Tutsi und gemäßigten Hutu, war Ruanda mit einer Unmenge mutmaßlicher Völkermörder konfrontiert. Die Justiz lag weitgehend am Boden. Es gab keine ausgebildeten Juristen mehr im Land, viele waren tot, andere geflohen. Die ordentliche Gerichtsbarkeit war angesichts der hohen Fallzahlen völlig überfordert. Im Jahr 2000 saßen schon rund 120 000 Verdächtige in den Gefängnissen und warteten auf ihre Verfahren. Die juristische Aufarbeitung hätte bei diesem Tempo noch mindestens einhundert Jahre gedauert. Also suchte man nach Alternativen. Die ruandische Regierung entschied sich für Gacaca-Gerichte und damit gegen eine Amnestie. Die Dorfgerichte sollen zur Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Versöhnung beitragen.

Früher ging es in den Dorfgerichten um Familienstreitigkeiten, heute verhandeln sie über Mord. Stehen dort auch die Drahtzieher des Völkermords vor Gericht?

Nein. Die politischen, militärischen und religiösen Führer oder Massenmörder werden vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda oder ordentlichen Gerichten zur Rechenschaft gezogen. Vor die Gacaca kommen alle Arten von Eigentumsverletzungen, Beihilfe zu schweren Straftaten bis hin zu Mord und schwerer Körperverletzung mit Todesfolge.

Was wäre da ein typischer Fall?

Dass sich jemand an einer Straßensperre beteiligt hat. Ruanda war während des Bürgerkriegs mit Straßensperren überzogen, an denen Menschen aussortiert wurden, die man dann umbrachte. Die Dorfgerichte versuchen zu klären, ob der Angeklagte an einer Straßensperre stand und welche Rolle er dort gespielt hat. Hat er die Ausweise der Menschen kontrolliert, stand er hinten am Graben und hat die Leute mit den falschen Pässen erschossen, oder hat er im Dorf die Straßensperren koordiniert?

Können Sie noch andere Fälle schildern?

Ein weiterer typischer Fall ist die Beteiligung an Trupps, die in den Dörfern gemordet und geplündert haben. Die Täter haben sich zu zehnt oder zwanzigst in einem Dorf versammelt, haben dort übernachtet, zusammen gefrühstückt und sind dann "zur Arbeit" gegangen, wie sie es genannt haben. Man ist über die Hügel gezogen, hat Dörfer und Hütten durchsucht, die Menschen selektiert und dann ermordet. Nach getaner Arbeit hat man abends am Lagerfeuer die gestohlenen Ziegen oder Kühe verspeist und am nächsten Morgen weitergemacht. Ein anderes Beispiel sind die vielen Morde in Kirchen. Zu Beginn des Genozids haben sich viele Leute in Kirchen geflüchtet, weil sie meinten, dort seien sie sicher. Wochenlang wurden die Kirchen belagert, bis die Menschen gezwungen waren herauszukommen. Viele Kirchen wurden auch gestürmt. Die Täter haben Handgranaten auf die Dächer geworfen oder Löcher in die Mauern gesprengt und die Geflüchteten umgebracht. Tausende haben ihr Leben in Kirchen gelassen, deshalb gibt es dort heute noch viele Gedenkstätten.

Wie verlaufen die Gerichtsverfahren?

Einmal die Woche wird in fast jedem ruandischen Dorf in der Landessprache Kinyarwanda verhandelt, meist im Freien und für die gesamte ruandische Bevölkerung öffentlich. Jeder Dorfbewohner weiß genau, welcher Fall wann dran ist. Man setzt sich auf einen Hügel und stellt ein paar Bänke und Tische auf. Die neun von der Dorfgemeinschaft gewählten Richter verlesen die Anklage, verhören den Angeklagten und Zeugen. Entweder stehen Zeugen in den Akten oder es wird einfach ins Publikum gefragt, wer zu diesem Fall etwas sagen kann. Das ganze Verfahren kann sehr lebhaft und widersprüchlich werden, da sich ständig Zuhörer melden, die sich zu dem Fall äußern möchten. Nach der Zeugenvernehmung beraten sich die Richter und fällen das Urteil im Mehrheitsbeschluss. In der Regel schließen sie an einem Tag ein oder mehrere Verfahren ab.

Sind Zeugenaussagen das einzige Beweismittel?

In der Regel ja. Der Völkermord liegt bereits 16 Jahre zurück. Dokumente, Tatwaffen oder DNA-Spuren existieren meist nicht. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist dies kritisch, da Zeugenaussagen bei dem damaligen Chaos im Land nicht immer verlässlich sind. Die Aussagen ziehen gleichzeitig wieder viele neue Fälle nach sich. Neue Sachverhalte kommen ans Licht, die wieder vor Gericht behandelt werden müssen. Deshalb verlängert sich die Rechtsprechung der Gacaca ständig. Eigentlich sollten die Verfahren schon vor zwei Jahren abgeschlossen sein. Nun rechnet die ruandische Regierung damit, dass die Arbeit der Gacaca in diesem Jahr abgeschlossen werden kann.

Welche Stimmung herrscht bei Gerichtsverfahren, wenn sich Täter und Angehörige von Opfern gegenüberstehen?

Sie ist angespannt und gedrückt. Im Idealfall gesteht der Täter seine Schuld und zeigt Reue. Da es genau darum geht, ist das Schuldeingeständnis ein zentrales Element im Gacaca-Prozess. In der Praxis kommt es aber vor, dass der Täter nur pro forma ein Reuegeständnis ablegt, weil das von ihm erwartet wird. Für die Opfer ist das unerträglich. Ein solcher Prozess reißt nicht nur bei den Betroffenen, sondern im ganzen Dorf alte Wunden auf. Weil die Taten häufig verdrängt wurden, können Traumata auch erst durch die Verhandlung entstehen.

Dann tragen die Gacaca also nicht zur Versöhnung bei!

Ob sie dazu beitragen, ist eine offene Frage. Reue lässt sich eben nicht erzwingen. Wie man auch dazu steht, allein können die Gacaca keine Versöhnung schaffen. Aber immerhin leisten sie einen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung der Taten, die in vielen Bereichen Gerechtigkeit erzielt hat. Und auch wenn die Laiengerichte unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten einige Mängel haben, ist ihre Arbeit ohne Alternative.

Wie lange wird es noch dauern, bis sich die Ruander als ein Volk fühlen?

Die ruandische Regierung gibt dies als Parole aus: Es gebe keine Hutu und Tutsi mehr, sondern nur Ruander, ein Volk, das gemeinsam am Fortschritt des Landes arbeitet. Der Völkermord wird dennoch lange nach dem Abschluss der Gacaca-Gerichte ein Thema in Ruanda bleiben. Bei einem solch einschneidenden historischen Erlebnis kann erst die Zeit die tiefen Wunden heilen.

Fragen: Ellen Großhans GACACA-GERICHTE

Die Folgen des Völkermords, bei dem 1994 mindestens 800 000 Tutsi und moderate Hutu ermordet wurden, sind bis heute im täglichen Leben in Ruanda spürbar. Der größere Teil der ruandischen Bevölkerung hat den Genozid miterlebt - als Täter, Opfer, Augenzeuge oder Angehöriger. Mutmaßliche Mörder leben oft Tür an Tür mit den Nachkommen ihrer Opfer. Millionen Menschen sind traumatisiert.

Gacaca bedeutet in der Landessprache Kinyarwanda Wiese oder grüne Fläche. Ursprünglich dienten die traditionellen Volksgerichte dazu, Streitigkeiten innerhalb der Dorfgemeinschaft oder einer Familie zu schlichten.

Im Jahr 2001 wurden die Dorfgerichte per Gesetz als Gerichtsbarkeit eingeführt. Vier Jahre später begann die Hauptphase der Gacaca-Prozesse zur Aufarbeitung des Völkermords.

Eine offizielle Statistik zu den von den Laiengerichten verhängten Strafen gibt es nicht. Das Strafmaß reicht von gemeinnütziger Arbeit bis hin zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Bislang sind zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Fälle abgeschlossen. Davon sind schätzungsweise 25 bis 30 Prozent Freisprüche.

Landesweit sind rund 12 000 Dorfgerichte tätig. Die ruandische Regierung rechnet damit, dass die Gacaca noch in diesem Jahr ihre Arbeit beenden.

 

Der Jurist Mathias Mühlhans leitet in Ruanda ein Programm der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, das demokratische Regierungsarbeit fördert. Das vom Bundesentwicklungsministerium in Auftrag gegebene Programm soll zudem die ruandische Generalstaatsanwaltschaft stärken sowie Versöhnung und Bürgerbeteiligung fördern.

FOTOS: KATHRYN COOK/VU/LAIF

Das ganze Dorf hört zu: Verteidigungsrede eines Angeklagten vor einem Gericht bei Shyogwe in Ruanda. Die Richter, erkennbar an der Schärpe, erheben Anklage, verhören und fällen ein Urteil

Gefangene, die auf ihre Verhandlung vor einem Dorfgericht warten. Da ihre Taten rund 16 Jahre zurückliegen, ist die Beweislage oft sehr schwierig

DIE LAIENGERICHTE ALLEIN SCHAFFEN KEINE VERSÖHNUNG. REUE LÄSST SICH NICHT ERZWINGEN

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