"Lasst uns Pizza spielen! ", ruft Tina* und wirft sich ihrer Schwester Karin* und der Mutter Beate P.* bäuchlings auf den Schoß. "Erst muss der Teig geknetet werden", sagt Tina - Mutter und Schwester massieren ihr den Rücken. "Dann muss Tomatenmark verteilt werden." Vier Hände streichen über das T-Shirt. "Und jetzt müssen noch Pilze drauf! " Karin und Beate P. zupfen mit spitzen Fingern auf dem Mädchen herum. Tina kichert, Mutter und Schwester schauen sich an und lachen. Sie sitzen auf einer Bank vor der Wohnung in Hamburg, die Sonne scheint auf den kleinen Spielplatz direkt vor dem Haus. Es ist ein gelöster, ein unbeschwerter Moment im Leben der drei, es ist ein Moment, für den Beate P. lange gekämpft hat.
Beate P. ist eine lebhafte Frau. Wenn sie lacht, füllt ihre Stimme den ganzen Raum. In ihrer Wohnung hängt afrikanische Kunst, auf den Schränken, an den Wänden reihen sich Fotos von ihr und ihren Kindern in bunten Rahmen - fröhliche Bilder, strahlende Gesichter. "Wenn man mich nicht besser kennt, würde man nie auf die Idee kommen, dass ich noch eine andere Seite habe", sagt sie.
Doch es gibt sie, diese andere Seite. Es ist die Seite, die Angst hat. Seit ihrem 21. Lebensjahr leidet Beate P. an einer Angstneurose. Aus heiterem Himmel überfallen sie Panikattacken. Wenn die Angst kommt, zittert die kräftige Frau am ganzen Körper. Sie ist nicht mehr ansprechbar, hyperventiliert. Lange Zeit haben die Panikattacken ihr Leben bestimmt - und damit, ohne dass sie es wollte, auch das ihrer Kinder Karin, 23, und Tina, acht Jahre. Das erste Mal, als die Angst sie überfiel, hat Beate P. noch klar vor Augen. Es war 1983, sie hatte vor kurzem erfahren, dass ihre Mutter an Darmkrebs sterben würde. Sie fuhr über die Autobahn, in einem alten VW-Käfer, und bekam plötzlich keine Luft mehr. "Ich habe gedacht, ich müsste sterben", sagt sie. "Ich dachte, es ist vielleicht ein Herzanfall." Mit Mühe schaffte sie es zu ihrem Freund und späteren Ehemann, der ihr Orangensaft einflößte und sie beruhigte.
Stammgast in der Notaufnahme
Wochenlang war danach alles wieder gut. Dann kam die Angst zurück. Und immer wieder. Oft waren die Panikattacken so heftig, dass sie in die Notaufnahme musste.
"Die kannten mich da schon, ich war bald Stammgast", sagt sie. Ihren Beruf als Polizistin konnte sie kaum noch ausüben, sie war immer öfter krankgeschrieben. Nach der Geburt ihrer Tochter Karin im Jahr 1987 arbeitete sie Teilzeit, mit 31 gab sie auf, das war 1993. Arbeitsunfähig. Die Angst bestimmte ihr Leben, sie war ein ständiger Begleiter geworden.
Auch Karin litt darunter. "Sie hat alles mitbekommen", sagt Beate P. So wie ihre Mutter kann sich auch Karin genau daran erinnern, wann sie das erste Mal der Angst gegenüberstand. Sie war gerade so alt wie Tina heute, als sie eine Panikattacke ihrer Mutter bewusst miterlebte. "Ich habe anfangs gar nicht verstanden, was da los war", sagt Karin. Die blonde junge Frau spricht leise, wenn sie darüber redet, oft lächelt sie schüchtern. "Ich dachte wirklich, sie stirbt. Ich habe mich dann zurückgezogen und gewartet, dass mein Vater von der Arbeit kommt."
Eine Zeit lang schaffte der Vater es, Karin ein wenig abzuschirmen. Doch die Ehe hielt nicht. Der Vater war oft tagelang verschwunden, es gab Probleme mit Alkohol. Als Karin elf war, trennten sich ihre Eltern. Beate P. suchte sich andere Unterstützung. Schon vorher hatte sie ein Sicherheitsnetz aus Bekannten aufgebaut, nun gingen die Freundinnen und Nachbarinnen in der Wohnung ein und aus. So war immer jemand da, um sich bei einer Panikattacke um Beate P. und Karin zu kümmern. Wenn nicht, fand sich meist eine geborgte Schüssel oder eine Kuchenform, die zu jemandem zurückgebracht werden konnte.
Karin wurde stiller
"Zum Teil habe ich Kontakte nur aufrechterhalten, damit im Notfall jemand da war", erinnert sich Beate P.. Zu dieser Zeit kam die Angst fast jeden Tag, manchmal auch mehrmals. "Wenn wir etwas Schönes unternehmen wollten, hatte ich immer Angst, dass eine Panikattacke alles kaputt macht", sagt Tochter Karin. Beate P. machte sich viele Vorwürfe: "Es war schrecklich, zu wissen, dass ich nicht immer so gut da sein konnte für sie, dass sie so viel mitbekommen hat." Dass die Kleine mit in die Notaufnahme musste, wenn es ihrer Mutter schlecht ging. Dass sie manchmal danebenstand, hilflos, während Beate P. sich bemühte, ihre Atmung zu kontrollieren.
Sie versuchte, mit ihrer Tochter über die Krankheit zu sprechen, zu erklären, was da eigentlich mit ihr passierte. Beate P. machte mehrere Therapien, ging schrittweise ihre Ängste an. Und regelte den Alltag, so gut es möglich war. "Ich versuche, mir zu sagen, dass ich das gebe, was ich geben kann. Und ich wusste immer, egal was passiert, ich kann Karin versorgen." Dennoch ging die Situation an Karin nicht spurlos vorbei. Sie wurde stiller, war oft in sich gekehrt.
Wenn sie bei einer Attacke mit der Mutter allein war, stellte sie sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und redete ihr gut zu: "Ich bin doch da, es wird nichts passieren." Wenn sie draußen Kinder auf der Straße spielen sah, überlegte sie sich gut, ob sie rausgehen könne oder nicht. Jemand musste ja aufpassen. Karin begann zu kochen, half im Haushalt mit. Mit zwölf Jahren war sie selbstständiger als die meisten Kinder ihrer Klasse. Und hatte das Gefühl, für die Sicherheit ihrer Mutter verantwortlich zu sein.
Stärke aus der Situation gezogen
Wenn sie heute zurückdenkt, kann sie sich nur dunkel an diese Zeiten erinnern. Deutlich vor Augen hat sie jedoch die anderen Stunden. Die ausgelassenen, die fröhlichen. Die, in denen Beate P. alles tat, um für Karin da zu sein, sie zur Schule brachte, zum Sport. "Wir haben viel Schönes miteinander erlebt und Spaß gehabt", sagt Karin. "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich eine schlimme Kindheit hatte. Die Angstattacken waren einfach da, es war irgendwie Normalität."
2002 wurde Beate P. wieder schwanger, mit Tina. Sie hatte einen Mann kennengelernt. Für Karin war die Situation schwierig. Sie war in der Pubertät, kam mit dem neuen Partner der Mutter nicht zurecht. Sie fühlte sich eingeengt, wollte ihr eigenes Leben - und hatte Angst, dass sie nun nicht nur für ihre Mutter, sondern auch noch für das Baby da sein müsste. "Es war keine schöne Situation damals, wir sind andauernd aneinandergeraten", sagt Karin. Mit 17 zog sie aus, kurz vor dem Abitur.
Heute studiert sie Soziale Arbeit in Vechta. Eine Studienwahl, die sie auch ihren Erfahrungen in der Kindheit zuschreibt: "Ich denke, dass ich viel Stärke aus der Situation gezogen habe. Sie hat mich feinfühliger gemacht. Ich habe ein Auge auf andere, möchte helfen." An den Wochenenden ist sie wieder oft bei Tina und ihrer Mutter zu Besuch. Seit sie erwachsen ist, haben sie und ihre Mutter viel über die frühere Zeit geredet.
Paten helfen
Für Beate P. jedoch war die Umstellung nach Karins Auszug groß. Sie war plötzlich allein. Die Ehe hielt nicht, Freundschaften zerbrachen. Oft endete der Kontakt abrupt. "Ich hatte mir immer im privaten Bereich meine Hilfe organisiert - und dabei manche Freundschaft belastet", sagt Beate P.. Das bekam auch Tina zu spüren. Selbst ihre Patentante zog sich von einem auf den anderen Tag zurück. "Tina kennt es so, dass ihre Kontaktpersonen irgendwann gehen. Für sie bedeutet jeder Streit eine mögliche Trennung", sagt Beate P.. Als sie sich vor kurzem mit Karin in den Haaren hatte, war Tina erst wieder beruhigt, als ihre Schwester das nächste Mal zu Besuch kam. "Tina bekommt unterschwellig sehr viel mit", sagt Beate P.. "Sie hat sehr feine Antennen entwickelt."
Nach der Trennung von ihrem zweiten Ehemann nahm Beate P. Kontakt zum Jugendamt auf, um das Besuchsrecht des Vaters zu regeln. Die Mitarbeiter vom Amt waren verständnisvoll, Beate P. erleichtert über die Hilfe. Und erfuhr von dem Projekt "Pfiff": Der Hamburger Pflege- und Patenkinder-Fachdienst vermittelt Eltern mit psychischen Erkrankungen ehrenamtliche Patenfamilien. Die Paten treffen sich regelmäßig mit den Kindern, sollte mal ein Notfall eintreten, können die Kinder auch länger bei ihren Paten wohnen. Zusätzlich werden Familien und Paten von den Fachkräften der Einrichtung unterstützt und begleitet.
"Ich fand die Idee gut", sagt Beate P.. "Ich wusste, da bietet jemand seine Hilfe freiwillig an, ohne dass es persönliche Bindungen oder Konflikte gibt. Das empfand ich als große Entlastung." Sie vereinbarte einen Termin, traf sich mit den Verantwortlichen des Projekts. Schon ein halbes Jahr später saßen sich Beate P. und Marion Koch* gegenüber. Koch, eine ruhige, besonnene Frau, arbeitet als Apothekerin und hat selbst keine Kinder. "Ich fand sie sofort sympathisch", sagt Beate P..
Kleiner Urlaub vom Alltag
Die beiden Frauen sprachen miteinander, später besuchten Tina und ihre Mutter die Kochs in ihrer Hamburger Wohnung und im Ferienhaus im Kreis Dithmarschen. "Tina mochte Marion, da war für mich klar, dass es funktionieren kann", sagt Beate P.. Trotzdem hatte sie anfangs ein schlechtes Gewissen. "Ich dachte, ich schiebe mein Kind ab, ich kann meine Mutterrolle nicht erfüllen." Auch Bekannte reagierten irritiert. Du gibst dein Kind weg zu Fremden? Heute jedoch weiß sie, dass es die richtige Entscheidung war. Einmal in der Woche übernachtet Tina bei Marion Koch, alle drei Wochen verbringt sie mit ihrer Patin ein Wochenende im Ferienhaus. Im Sommer fahren sie auch mal zusammen in Urlaub. "Tina tut es gut, mit Marion rauszukommen. Sie können vieles unternehmen, was ich mit meinen Ängsten noch schwierig finde. Und ich weiß genau, die Marion hat auch Lust dazu, sie macht das freiwillig und gern."
Für Tina sind die Ausflüge zu ihrer Patentante ein kleiner Urlaub vom Alltag. Im Ferienhaus tobt sie mit dem Jack Russel Terrier oder versorgt die Esel einer nahegelegenen Farm. Sie spielt mit der Nichte ihrer Patentante und genießt es, Zeit mit der Mutter von Marion Koch zu verbringen. Die nennt sie Oma. Über die Situation zu Hause spricht sie kaum. Die Krankheit der Mutter spielt zwischen der Patin und Tina nur eine untergeordnete Rolle. "Es soll bei uns bewusst um Tina gehen, und nicht um ihre Mutter", sagt Marion Koch. "Tina soll hier ein wenig zur Ruhe kommen, Kind sein. Und das kann sie gut. Sie ist ein richtiger Wirbelwind."
Tina ist ein aufgewecktes Kind. Sie macht viel Sport, kuschelt mit ihrem Zwergkaninchen - und noch lieber mit Beate P. oder ihrer Schwester. Auch sie achtet auf ihre Mutter. Sie weiß, dass es ihr manchmal schlecht geht und sie dann nicht so gut auf sie eingehen kann. Dann malt sie ihrer Mutter manchmal ein Bild, das sie aufheitern soll. "Die Situation hat sich aber deutlich entspannt", sagt Beate P.. Ihre Panikattacken hat sie dank der Therapien besser im Griff. "Das Gefühl, dass die Marion im Notfall für Tina da wäre, gibt mir enorme Sicherheit."
Auch Karin findet die aktuelle Familiensituation gut. Ihr Studium hat sie bald abgeschlossen. Dann will sie zurück nach Hamburg. Tina freut sich: "Wenn Karin da ist, schlafen wir oft zusammen in einem Bett", sagt sie und wirft sich ihrer Schwester in den Arm. Dann spurtet sie rauf in ihr Zimmer, vorbei an Familienfotos mit lachenden Gesichtern.
* Name von der Redaktion geändert