Vor vierzig Jahren, am Beginn meiner Frankfurter Zeit, habe ich mich nicht gefragt, ob diese Stadt meine Heimat werden könne oder nicht. Ich habe auch als Kind, als ich durch das zerstörte Mannheim lief, nicht wissen wollen, ob diese Trümmerwelt mein Zuhause sei. Im unfähigen Alter von 21 Jahren, als ich eine Schwarzwälderin heiratete, blieb im Dunkeln, ob ich jetzt ein Schwarzwälder werde.
Ich bin heute froh, dass mir nie eine Heimat zu nahe getreten ist. Nur so konnte es zu mehreren Heimaten gleichzeitig kommen. Die Menschen gehen dorthin, wo sie Arbeit, Liebe oder eine Wohnung finden, mit anderen Worten: wo sie von der Wirklichkeit nicht gar zu sehr vergewaltigt werden. An schlimmen Tagen, wenn ich nicht mit der Schule, nicht mit den Eltern und nicht mit der Heimat zurechtkam, kaufte ich mir ein Brötchen und setzte mich irgendwohin. Einen Teil des Brötchens steckte ich in meine Hosentasche, für später. Am nächsten Tag spielte ich mit den in meiner Hosentasche hart gewordenen Krümeln. Heute kommt es mir so vor, als sei das Spiel mit den Krümeln ein erstes ernsthaftes Zeichen meiner Zugehörigkeit zu bestimmten Verhältnissen gewesen: Heimat ist das zuverlässig Wiederkehrende.
Es dauert lange, bis man merkt, dass man Wurzeln geschlagen hat
Denn Heimatgefühle bilden sich ohne Absicht an zufälligen Orten. Der Wirkstoff Heimat arbeitet ungeplant, unmerklich und intensiv. Es dauert lang, bis wir eines Tages merken, dass wir dort, wo wir nicht mehr loskommen, Wurzeln geschlagen haben, die wir dann Heimat nennen. Dort, wo eigentlich kein „richtiges“ Leben vorgesehen war, bauen wir ein Häuschen und kriegen Kinder.
Im Stillen ist Heimat ein Wort für Untrennbarkeit geworden: für den ersten uns möglichen Anblick der Welt, den wir dann sehr lange für den einzigen halten. Daraus ergibt sich eine seelische Fixierung, die sich in eine lebensgeschichtliche Bindung verwandelt. Es wird dann gleichgültig, wo wir uns später aufhalten, die Bilder der „ersten“ Heimat werden unvergesslich, wie schwach sie dann auch geworden sein mögen. Die Fixierung ist so mächtig, dass sich aus ihr das Phänomen der durchscheinenden Bilder entwickelt. Das heißt, wir sehen auch dann, wenn „wir fern der Heimat“ sind, durch die fremden Anblicke hindurch die einmaligen Bilder der „ersten“ Heimat.
Zuweilen setze ich mich in eine U-Bahn und fahre in Stadtteile, in denen ich früher gelebt habe. Und freue mich, dass es diese Stadtteile immer noch gibt und dass sie sich kaum verändert haben. Diese Vororte sind weder einmalig noch attraktiv, aber sie sind unverwechselbar und glaubwürdig durch lange Identität mit sich selbst. Allenfalls ist ein Supermarkt verschwunden, nachts flackert das Neonlicht einer Disco, aber sonst ist nichts Neues geschehen.
In dem Wort Heimat steckt auch das starke Wort „heimlich“. Die Herausbildung von Heimatgefühlen geschieht in der Regel ohne Öffentlichkeit und ohne Kommunikation. Die Heimatempfinder fühlen sich dadurch geschützt. Denn innere Zugehörigkeit zu einer Stadt oder einer Landschaft ist meistens mit heftiger Scham besetzt. Der moderne Mensch schämt sich, weil sich etwas so Altertümliches (und politisch Heruntergekommenes) wie Heimat in ihm ausgebreitet hat.
Heimat - ein lebenslanges Halberlebnis
Ich vergleiche die Entstehung von Heimatgefühlen oft mit dem allmählichen Eindringen des hörenden Menschen in ein bestimmtes Musikwerk. Plötzlich, nach langer Zeit, stellt sich heraus, dass wir eine Sonate von Vivaldi oder eine Sinfonie von Haydn mehr mögen als andere Sonaten und Sinfonien, ohne dafür die Gründe zu kennen. Wenn die Zuneigung anhält, sind wir irritiert, weil nun sogar Heimatgefühle in diese Liebhabereien eingedrungen sind.
Ich war einmal dabei, als deutsch-jüdische Emigranten aus Amerika, die vorübergehend als Touristen in ihre alten Heimatstädte zurückkehrten, plötzlich in lautes Schluchzen und Wehklagen ausbrachen, weil sie ein bestimmtes Haus wiedergesehen oder ein unvergängliches deutsches Wort wiedergehört hatten. Das heißt: Gewisse Anmutungen sind ohne Wissen des Bewusstseins körperlich geworden. Man kann auch sagen: Heikle Wirklichkeiten haben sich in der Psyche des Menschen zu sehr verausgabt. Noch einmal anders gesagt: Wohlmeinende Selbstzuschreibungen zu einer Heimat erweisen sich als nicht abschließbar. Heimat ist ein lebenslanges Halberlebnis mit immer neuen „Ausbrüchen“.
Die innere Unfassbarkeit der Heimat ist vielleicht sogar die stärkste offene Erfahrung des Menschen. Wir reden von etwas, was wir nicht kennen, aber heftig begehren. Wir träumen von etwas, das sich uns nicht zeigt, uns aber fortlaufend verführt. Wir trauern um etwas, das wir von Zeit zu Zeit beschuldigen, obwohl es uns nichts angetan hat. Wir laufen immerzu einem Verlangen hinterher, das uns nicht anerkennen will.
"Du bist Orplid, mein Land!"
Deswegen sind wir „verwundet und voll von dem großen geheimen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist. Es ist eine schreckliche und unbegreifliche Auszeichnung“, wie Ingeborg Bachmann einmal geschrieben hat. Denn zu unserem Trost gibt es immerhin die Literatur, die mehr als die üblichen Allgemeinheiten aussprechen darf. Der Dichter Eduard Mörike, der sein schwäbisches Zuhause kaum je verließ, hat für das Schmerzensbild der Heimat Worte gefunden, die bis heute unübertroffen sind, zum Beispiel die acht Zeilen seines Gedichts „Gesang Weylas“:
Du bist Orplid, mein Land!
Das ferne leuchtet;
Vom Meere dampfet dein besonnter Strand
Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet.
Uralte Wasser steigen
Verjüngt um deine Hüften, Kind!
Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind.
Die Außerordentlichkeit des Gedichts besteht darin, dass Mörike für die Unaussprechlichkeit der Heimat das Kunstwort Orplid erfand, das die Unmöglichkeit unserer Sehnsucht ausspricht, ohne diese Sehnsucht zu opfern, das heißt ohne sie für den Alltagsverstand buchstabieren zu müssen. Tatsächlich weiß niemand, was Orplid bedeuten soll. Klar ist nur so viel: Orplid ist ein Traumort, ein Phantasma der nie gekannten Erlösung von jeglichem inneren Druck, sozusagen: die göttliche Befreiung auf Erden.
Im Grenzbereich zwischen Himmel und Erde
Mit ausgedrückt ist in dem Gedicht insbesondere das Drama des menschlichen Begehrens einschließlich seiner Vergeblichkeit. Denn die so sehr herbeigewünschte Heimat Orplid hält dem menschlichen Verlangen nicht stand – und kann deswegen nur als Taumel der Bilder überleben: als (gedichtete) Fiktion des Trostes, als Hebel, der die Wangen der Götter befeuchtet. Eben deswegen ist das Kunstwort Orplid so großartig: Traumhaft genau und traumhaft ahnungslos (was dasselbe ist) lässt es uns ahnen, dass wir mit Orplid den Grenzbereich zwischen Himmel und Erde betreten haben. Der Wunsch, eine reale Heimat zu finden, muss vor seiner Erfüllung geschützt werden, damit eine Sehnsucht aus ihm werden kann. Das heißt, der Wunsch verhält sich wie ein fliehender Hase, der in der Minute seiner Verfolgung plötzlich einen Haken schlägt und im himmlischen Flimmern verschwindet.
Vermutlich ist das Verlangen nach Heimat ein Trieb wie andere auch, den wir nur aus Scham nicht so nennen. Gerade der, den es nach Heimat verlangt, will doch vernünftig bleiben; dass er in der Tiefe seines Gemüts das Pochen der Heimat vorfindet, ist für seine Vernunft eine Zumutung. Dabei ist die Einsicht ins Irrationale durchaus lohnend; das Ineinanderfließen des Subjekts (das Wünschen) und des Objekts (die Heimat) könnte uns lehren, dass unsere Wunschkraft selber ein Teil unserer göttlichen Aussteuer ist.