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Endlich wieder Gartenzeit. Draußen sitzen, nur im Hemd, ein Bierchen, ein Weinchen, ein Tässchen. Und plaudern, ratschen, quatschen, erzählen. Zeit haben miteinander – und füreinander. Kann man auch drinnen machen, klar. Ganz klar. Geht auch. Mhmmmm. Aber draußen ist anders.
Biergärten mit den langen Tischen zum Beispiel haben den großen Vorteil, dass Menschen voll der unterschiedlichsten Geschichten nebeneinander und weitgehend offen aus ihren Leben berichten. Wortfetzen, Gedankentorsi, Mottos und Erklärungen.
„Ich bin ja ein ganz spiritueller Mensch. Und seit ich Asketin bin, habe ich eine ganz andere Beziehung zu meinem Stoffwechsel.“ Aha. „Ich kann sagen, dass ich echt Humor habe. Aber bei den blöden Witzen von dem Kurt, da hört für mich der Spass auf. Ganz im Ernst.“ Ja, durchaus.
„Ich bin ein ausgesprochener Individualist. Das sagen mir alle im Chor. Obwohl ich derjenige bin, der noch nie ein Solo singen durfte.“ Das geht in die Tiefe menschlicher Existenz. „Ja“, antwortet das Gegenüber, „so geht’s mir im Fußball. Die Mannschaft ist das Individuum!“ Wenn das der Seppl Herberger hören würde. Droben auf seiner ballrunden Wolke würde er breit grinsend nicken. Verdanken wir ihm doch die schönsten Weisheiten wie „Flach spielen und hoch gewinnen“ oder „Der nächste Gegner ist immer der schwerste“ oder „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“.
Aufgefallen ist mir die häufige Verwendung einer rhetorischen Einleitungsformel bei besonders wichtigen Meinungsäußerungen: „Ich bin kein..., aber...!“ Ich bin kein Grüner, aber mit der Atomkraft muss jetzt Schluss sein. Ich bin kein Schwuler, aber wenn zwei Männer einander lieben, was ist schlimm dran? Ich bin nicht katholisch, aber der neue Papst gefällt mir. Ich bin kein Türke, aber Galatasaray hätte ich nach dem Sieg gegen Schalke auch einen gegen Real gegönnt.
„Ich bin kein...“ – diese Eröffnung gibt dem folgenden Kommentar das Gewicht der fundierten und wahrhaft von eigenen Interessen oder Zugehörigkeit freien, ja wirklich unabhängigen Haltung. Ich bin aus Erkenntnis als freier Mensch zu meiner Auffassung gelangt und nicht, weil ich eigene Interessen im Zentrum meiner Wahrnehmung habe. So! Das musste doch mal, ich meine, ich bin kein..., aber das! So geht’s doch nicht!
Ich bin kein Alkoholiker, kein Spielverderber, aber...!
Die Kellnerin naht. „Noch ein Gläschen Wein, ein Bier?“ Also, ich bin kein Alkoholiker, aber so fröhlich, wie wir hier sitzen, gönnen wir uns noch einen! Oder nicht? Oder: Ich will kein Spielverderber sein, aber ich meine, wir sollten jetzt Schluss machen und zahlen. Na gut, die Rechnung bitte.
Das Menschsein ist ein Spannungsverhältnis zwischen dem „So isses“ und dem „Es könnte auch ganz anders sein“. Und wenn Leute frei und friedlich von sich erzählen, dann beschreiben sie nicht nur im Biergarten diese reizende, immer wieder aufs Neue kitzelnde Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit.
Während wir auf die Rechnung warten, wird mir bewusst, dass die Grundmelodie der Plauderei seit Menschengedenken die grundlegende Konstante unseres Daseins ist. Rentierjäger, Kelten, Ägypter, Chinesen, Griechen, Römer oder Germanen saßen des Abends um ihre Lagerfeuer oder vor den Kaminen und erzählten mit einem ähnlichen Blick auf das Leben, wie wir es tun, wie es in den TV-Talkrunden geschieht. „Ich bin kein Römer, aber diese Legionärsklamotten sind tausendmal praktischer als unsere Rüstungen.“ – „Ich bin kein Kelte, aber kämpfen und saufen können die Kerle wie sonst niemand.“ – „Ich bin kein Germane, aber haste mal gesehen wie die reiten? Wie die schon auf dem Gaul sitzen – unglaublich!“
Und daraus entstanden die Mythen: „Vor Jahren, da droben, wo sonst keiner von uns hinkommt, da ist mir mal einer begegnet, der war ein Zauberer. Ehrlich. Merlin hieß der. Der konnte Geschichten erzählen! Ich bin ja keiner, der mit irgendwelchen wilden Stories zu beeindrucken ist. Aber was der so erzählt hat... Legt noch ein paar Scheite nach, dann versuche ich, euch seine beste Geschichte zu erzählen.“ Lassen Sie sich mit der Rechnung Zeit! Wir bleiben noch ein Stündchen.