Kreuzungspunkt an der Ostgrenze Rumäniens mit der Republik Moldau Foto: Bogdan Cristel / Reuters
Seit Rumäniens und Bulgariens EU-Beitritt kommen verstärkt Armutseinwanderer nach Deutschland. 2012 registrierte allein Dortmund 3110 Rumänen und Bulgaren, sechs Jahre zuvor waren es 570. Dabei ist Dortmund eine Stadt mit besonders vielen Langzeitarbeitslosen. Fragen an die Diakonie-Chefin von Dortmund und Lünen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
22.03.2013

chrismon: Warum muss eine Stadt wie Dortmund jetzt auch noch Armutsmigranten mitversorgen?

Anne Rabenschlag: Sie sind EU-Bürger. Seit Rumä­niens und Bulgariens EU-Beitritt 2007 dürfen sie für drei Monate einreisen, können in der Zeit einen Wohnsitz nehmen und ihre Kinder für die Schule anmelden.

Einwanderer auf Arbeitssuche gab es doch schon immer!

Rabenschlag: Ja, aber diese Armut kannten wir bisher nur von Flüchtlingen aus Entwicklungsländern. Wir kannten sie nicht von frei reisenden EU-Bürgern. Sie kommen auch aus Verhältnissen, wie wir sie uns bislang in der EU oft gar nicht mehr vorstellen konnten. Und wenn Rumänien und Bulgarien 2014 dem Schengen-Abkommen beitreten, ihre Bürger dann also frei ihren Aufenthaltsort in der EU wählen können, werden es sicher noch mehr.

Warum ziehen diese Leute nach Dortmund?

Rabenschlag: Sie ziehen ja auch in andere Städte. Aus ihrer Sicht ist Dortmund nicht arm.

Lässt sich genau erheben, wie viele jetzt schon kommen?

Rabenschlag: Die Dunkelziffern sind höher als die offiziellen Zahlen. Manche meiden die Behörden wegen schlechter Erfahrungen zu Hause.

Wie reagieren Stadt und Diakonie auf die Not?

Rabenschlag: Inzwischen bietet die Stadt Dortmund eine kos­tenlose Gesundheitssprechstunde für Kinder an. Die Diakonie hat Ende 2011 zwei Muttersprachlerinnen eingestellt, die Familien aus Rumänen und Bulgaren bei Ämtergängen unterstützen. Seit Februar suchen weitere zwei Diakoniemitarbeiter stundenweise Kontakt zu den Leuten, die am Straßenrand ihre Arbeitskraft anbieten. Sie informieren über rechtliche Rahmenbedingungen und die vorhandenen Hilfsangebote.

Was erwarten Sie von der EU?

Rabenschlag: Dass sie diese Armutsmigration endlich stärker in den Blick nimmt. Noch immer ist vieles rechtlich nicht geregelt. Etwa die Anrechenbarkeit von Versicherungen: Alle rumänischen und bulgarischen Kinder sind pflichtver­sichert. Die Eltern können das aber oft nicht nachweisen und haben Schwierigkeiten, hier in die Versicherungen reinzukommen. Auch müssen die Lebensverhältnisse angeglichen werden, damit die Menschen bei sich zu Hause ein Auskommen haben.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

In dem sonst ausgezeichneten Interview irrt Frau Rabenschlag in ihrer zweiten Antwort. 2014 werden Bulgarien und Rumänien noch nicht unbedingt dem Schengen-Abkommen beitreten. Es geht aber um etwas von Schengen völlig Unabhängiges: Mit dem 01.01.2014 gilt auch für bulgarische und rumänische Arbeitnahmer/innen die völlige Freizügigkeit; sie können sich also überall in der EU einen Arbeitsplatz suchen, so wie es die Bewohner/innen der 2004er Beitrittsgruppe seit dem 01. 05. 2011 können. Hintergrund ist eine Übergangsregelung der EU, die mit Blick auf die 2004er Beitrittsgruppe auf Druck Österreichs und Deutschlands beschlossen und seitdem beibehalten wurde. Sie ermöglicht es den einzelnen Staaten der Alt-EU, für EU-Neumitglieder die volle Arbeitnehmer/innen-Freizügigkeit bis zu sieben Jahre lang zu verzögern. Dass das nichts mit Schengen zu tun hat, beweist das Vereinigte Königreich: Es gehört Schengen nicht vollständig an (man wird an den Grenzen kontrolliert), aber die Abeitnehmer/innen-Freizügigkeit ist vollständig.