Es ist eine moralische Regel, über die man nur staunen kann: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin. Diese Regel aus der Bergpredigt Jesu scheint alle herkömmliche Moral zu überbieten. Sätze wie dieser nähren die Auffassung, dass Christen eine Art Sonderethik haben, sich also auf ethisch höherem Niveau als Nichtchristen bewegen. Die weiße Weste: bei ihnen der Normalfall?
Die Taufe wurde hinausgezögert, um vorher noch zu sündigen
Immer wieder hat es in der Geschichte des Christentums Gruppen gegeben, die besonders viel Wert auf ein ethisch makelloses Verhalten legten. In der Alten Kirche zögerten deshalb viele Menschen die Taufe möglichst lange heraus, weil sie sich vorstellten, man dürfe als Getaufter nicht mehr sündigen, sonst komme man direkt in die Hölle. Im Mittelalter wuchs die Angst der Menschen vor schrecklichen Höllenstrafen, und der Ablasshandel, den die Kirche seit Beginn des 16. Jahrhunderts betrieb, machte daraus ein Geschäft: Gegen die Zahlung von Geld, so die Verheißung, könne zwar nicht die Schuld an sich getilgt, wohl aber die Dauer der Qualen in der Hölle verkürzt werden.
Martin Luther stellte die christliche Ethik auf eine neue Grundlage. In seiner Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen hob der Reformator den biblischen Gedanken hervor, dass Gott allein und zwar aus Gnade die Sünden der Menschen vergeben könne und dass deren Werke dafür bedeutungslos seien. An die Stelle der starren Regeln einer Gerechtigkeit nach den Werken trat die Hoffnung der Gläubigen auf einen gnädigen Gott.
Das Gewissen des Einzelnen
Es gab sogar Lutheraner, die behaupteten, gute Werke seien schädlich. Gegen diese Radikalen entwickelte Luther eine Ethik, die stark auf das Gewissen des Einzelnen setzte. Denn die biblischen Gebote blieben natürlich auch für die Reformatoren zentral. Aber sie entkoppelten ihre Erfüllung von der Frage nach dem Seelenheil. Martin Luther war überzeugt, dass der Glaube ein so "geschäftig, tätig, mächtig Ding" sei, dass er automatisch gute Werke hervorbringe. Er wollte sie aber aufgrund seiner Überzeugung von der Rechtfertigung sola gratia (allein aus Gnade) nicht mit der Frage nach dem Seelenheil verknüpfen.
Deutlich anders sah das die andere große Konfession der Reformation, der wesentlich auf Johannes Calvin zurückgehende reformierte Protestantismus. Calvin lehnte die starke lutherische Trennung zwischen Glauben und Alltagsethik ab. Die reformierten Gemeinden achteten sehr genau auf den Lebenswandel ihrer Mitglieder. Wichen sie vom rechten Weg ab, wurden sie der Kirchenzucht unterworfen, bei schweren Vergehen sogar bestraft. Die reformierte Kirchenzucht, also die Befolgung christlicher Grundsätze im Alltag, diente keinesfalls nur der Kontrolle des persönlichen Lebenswandels, sondern auch des öffentlichen Lebens. Während das Luthertum die politische Sphäre praktisch in ihrer Eigengesetzlichkeit beließ, galten im reformierten Protestantismus die ethischen Maßstäbe des Evangeliums auch für die Herrschenden. Der Calvinismus entwickelte sogar eine Lehre vom Recht auf Widerstand, die wesentlich zur Ausbildungdesmodernen, demokratischen Rechtsstaats beitrug.
Das ethische Verhalten des Einzelnen hat eine hohe Bedeutung
Heute gehören beide ethischen Konzepte eng zusammen. Nach evangelischem Verständnis kommt dem ethischen Verhalten des einzelnen Christen sehr wohl eine hohe Bedeutung zu, auch wenn Gott aufgrund des Verhaltens kein Urteil über den Menschen an sich fällt. Gottes Wille aber darf nicht aus dem täglichen Leben herausgehalten werden, sondern soll die Richtschnur für Christen sein. Zwar mag es schwer sein, biblische Maximalforderungen, zum Beispiel aus der Bergpredigt, im täglichen Leben konsequent zu praktizieren, doch die Auseinandersetzung mit ihnen schärft das eigene Gewissen.
"Seid vollkommen, wie auch Euer Vater vollkommen ist" - mit dieser Forderung Jesu schließt die Bergpredigt im Matthäusevangelium. Dieser Forderung wird ein Mensch niemals völlig entsprechen können. Doch neben ihr steht der biblische Grundsatz, dass Gott den Menschen nicht aufgrund seiner Werke beurteilt, sondern als eigenständige Person jenseits seiner Taten und Untaten.