Thomas Meyer/Thomas Meyer/ OSTKREUZ
Christoph Johannes MarkschiesThomas Meyer/OSTKREUZ
23.10.2012
Ewigkeitssonntag - Letzter Sonntag im Kirchenjahr
„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird...“
Jesaja 65,17-25

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Der Satz des von vielen hochverehrten ­Altbundeskanzlers Helmut ­Schmidt wird einem gern um die Ohren gehauen, wenn man erklärt, es könne doch nicht auf ewige Zeiten so bleiben, dass so viele Kinder weltweit verhungern und sich so viele Menschen in den Konfliktgebieten ge­genseitig totschlagen. Angesichts der gegenwärtigen Schuldenkrise vieler euro­päischer Staaten scheint dieser Satz besonders sinnvoll: Lieber erst einmal die Gemeinschaftswährung, den Euro, über die Runden retten, bevor wir wieder wolkige Visionen für das vereinigte Europa formulieren. Vor meinem geistigen ­Auge erscheint nicht nur der Altbundeskanzler, wie er Schnupftabak auf der Handfläche verteilt, sondern seine gegenwärtige Nachfolgerin, wie sie die Fingerspitzen vor der Brust gegeneinander legt. „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“

Jesaja hat Visionen. Und was für welche: Wolf und Schaf liegen friedlich bei­einander. Niemand muss vergeblich arbeiten, vor allem niemand für einen anderen Menschen. Kein Kind muss sterben und kein Erwachsener vor der Zeit. Gott erhört unsere Gebete, bevor wir überhaupt zu beten angefangen haben.

Sind das unrealistische Fieberfantasien eines Menschen, der mit der harten Realität nicht zurechtkommt? Will man solche Sätze Eltern sagen, die gerade ihr Kind verloren haben? Ist das nicht die Vertröstung auf das Jenseits, die man dem Christentum immer vorgeworfen hat?

Ohne mutige Visionen kann man keine mutige Politik betreiben

Ich erinnere mich noch gut an die Männer in den erdfarbenen Uniformen. Sie trugen meist Reithosen, auch dann, wenn sie den lieben langen Tag an der Grenze standen und Ausweise kontrollierten. Ei­nige von ihnen standen auf Türmen und überwachten mit Maschinengewehren die innerdeutsche Grenze. Als ein Fernseh­korrespondent öffentlich sagte, dass diese Grenztruppen den Befehl hätten, auf ­Menschen wie Hasen zu schießen, wurde ihm sofort „wegen gröbster Diffamierung des Volkes und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik“ die Akkreditierung entzogen.

Jenes Grenzregime brach später innerhalb weniger Monate zusammen und heute erinnert in der Stadtmitte Ber­lins nur noch ein Metallstreifen an die verschwundene Mauer, die Grenzsoldaten und ihren Schießbefehl. Wer hatte da nun recht? Die, die an der Vision festhielten, dass die Mauer fallen werde (wie der ehemalige Berliner Bischof Kurt Scharf, der sogar das Datum recht präzise voraussagte), oder die, die solche Visionäre zur Behandlung schicken wollten?

Ohne mutige Visionen kann man keine mutige Politik betreiben. Ohne entschlossene Visionen für ein vereintes Europa wird man keine Kraft finden, die ins Taumeln geratene Gemeinschaftswährung zu retten und verschuldeten Ländern beizustehen. Ohne Visionen kann auch ein Einzelner nicht fröhlich und getrost durchs Leben gehen.

Die Feindschaft der Menschen überwinden

Das gilt natürlich auch für die Religion: Die großen Hoffnungen der biblischen Texte zu verschweigen wäre, als würde man aus einem Livekonzert der Berliner Philharmoniker eine verwaschene alte Tonbandaufnahme machen, aus einem langen tröstlichen Brief eine im Handy vorformulierte SMS und aus einer festlichen Mahlzeit ein Tankstellen­sandwich. Wenn wir nicht die Gewissheit der biblischen Texte weitergeben, dass Gott den Tod niedergerungen hat, die entsetzliche Feindschaft der Menschen überwindet und Sinn schenkt, wo Verzweiflung wohnt – ja wer soll es dann tun? Wer verkündigt dann in einer Welt des Todes, in einer Umwelt voller Hass und in verzweifelten Verhältnissen noch den Sieg des Lebens?

Gelegentlich, vor allem wenn die Kraft fehlt, solche Visionen weiterzugeben, muss man sie sich einfach gesagt sein lassen.

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