Und empfindet "eine riesige Freiheit"
Dirk von Nayhauß
07.10.2010

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Ich idealisiere Kinder nicht. Sie müssen ja noch so vieles lernen, und als Kind empfindet man vieles als sehr dramatisch. Zugleich haben Kinder weniger Erfahrungen darin, mit Schwierigkeiten umzugehen. Wenn ich sie aber um irgendetwas beneide, dann ist es der ungezwungene Umgang mit sich selber: Sie sind innerlich freier. Sie bewegen und geben sich natürlicher, sind authentischer als Erwachsene. Sie kritisieren sich nicht, sie sind noch frei von diesem endlosen Kalkulieren, sie denken nicht darüber nach, wie sie gerade aussehen, ob sie vielleicht etwas Dummes sagen.

An welchen Gott glauben Sie?

Ich habe mich noch nicht entschieden, und vermutlich werde ich das auch niemals schaffen. Es ist natürlich sehr verführerisch, an Gott zu glauben, weil einem das die Illusion von Ordnung und Sicherheit gibt. Wenn ich mir aber die Welt ansehe mit all diesen Desastern und Grausamkeiten, empfinde ich es als unmöglich. Nach dem Holocaust, wie soll man da an Gott glauben? Und doch will ich diese Hoffnung nicht verlieren. So suche ich nach Kompromissen: Vielleicht ist Gott all das Gute in uns? Vielleicht müssen wir ihn in unseren noblen Gefühlen sehen? Jedenfalls kann ich nicht an einen Gott glauben, der dir sagt, was du tun sollst, und dich bestraft, wenn du fehlgehst.

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Ich fühle mich fast immer lebendig, am meisten beim Schreiben. Bevor ich anfange, umfängt mich normalerweise eine Schwere: Wenn ich mich vorbereite, in den Raum gehe, die Tür hinter mir schließe und versuche, alles andere zu vergessen. Ich fahre den Computer hoch und lese die vorherigen Seiten. Ich versinke in eine sehr tiefe Konzentration, so als würde ich meditieren, obwohl ich das nie getan habe. Und irgendwann führe ich die Sätze fort, die ich zuletzt geschrieben habe. Ich versuche, die richtigen Worte zu fangen, die wie Vögel aus dem Himmel in meinen Raum flattern. Versuche, meiner inneren Stimme zuzuhören. Das ist für mich die schönste Erfahrung überhaupt, eine riesige Freiheit und riesige Freude. Meine Gefühle sind extrem wach, wenn ich schreibe, manchmal fast schmerzhaft. Und dann denke ich oft: Das ist Leben - derart empfindsam zu sein.

Muss man den Tod fürchten?

Ich habe immer das Leben mehr gefürchtet als den Tod. Wir wissen doch alle, wie beängstigend das Leben sein kann, wie unterschiedliche Qualen wir erleiden können. Die Grausamkeiten des Lebens jagen mir mehr Angst ein: Krankheiten, der Tod anderer, mir naher Menschen. Vor knapp vier Jahren wurde ich bei einem Selbstmordanschlag schwer verletzt. Neben mir lag eine tote Frau, ein Bein fehlte ihr, doch Angst spürte ich keine. Selbstverständlich will ich nicht sterben, vor allem meine Kinder brauchen mich noch - meine Tochter ist 19 Jahre alt, mein Sohn zwölf. Ich möchte meine ganze Familie noch viele Jahre begleiten, aber das Wissen um meinen Tod ängstigt mich nicht.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Liebe ist eine große Kraft, die uns den Tod und all die Sorgen und Leiden vergessen lässt. Zumindest am Anfang, wenn die Liebe noch frisch ist. Auf der anderen Seite ist die Liebe ein großes Risiko, weil du dich öffnest und dich dem anderen auslieferst. Das kann sehr schmerzhaft sein. Du bist so verwundbar. Heute schätze ich zunehmend die beständige, dauerhafte Liebe. Ich suche nicht mehr die romantische, stürmische Beziehung. Loyalität und Rücksichtnahme sind mir heute viel wichtiger - wenn man sich umeinander kümmert, füreinander sorgt. Dieser Art der Liebe kann ich heute mehr trauen. Zugleich muss ich zugeben, dass ich ein bisschen abhängig bin von der Liebe meiner Kinder, diese Liebe zu fühlen macht mich glücklich.

Welchen Traum möchten Sie sich noch unbedingt erfüllen?

Ich würde gerne in Frieden in meinem Land leben. Alle zwei oder drei Wochen gehe ich mit anderen Frauen - wir nennen uns "Checkpoint Watch" - zu Kontrollpunkten und bemühe mich, zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Zivilisten zu vermitteln. Viel können wir damit nicht ändern, und doch bleibt es mein Traum, dass beide Völker irgendwann in der Lage sein werden, friedlich in zwei unterschiedlichen Ländern zu leben und die hundert Jahre des Krieges und der Grausamkeiten zu vergessen. Es könnte das Paradies sein für die Israelis und die Palästinenser. Ich hoffe, ich werde das selbst noch erleben.

 

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