Das erfundene Volk
Stimmt es? Juden, die heute nach Israel einwandern, sind überwiegend Nachfahren von Nordafrikanern, Slawen und anderen. Die palästinensischen Juden konvertierten vor 2000 Jahren zum Christentum, später zum Islam. Es sind die Vorfahren der heutigen Palästinenser. Das jedenfalls legt Schlomo Sand nahe, Professor für Geschichte an der Tel-Aviv-Universität. Und bringt die klassischen Argumente für die Alija, die Einwanderung nach Israel ins Wanken
Ruthe Zuntz
07.10.2010

chrismon: "Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?", so heißt Ihr neues Buch. Was wollen Sie uns darin sagen?

Schlomo Sand: Dass es überhaupt eine jüdische Nation gibt, wird erst seit etwa 150 Jahren behauptet. 1871 schrieb der jüdische Historiker Heinrich Graetz, ein Deutscher, die Juden seien ein Volk - ein Volk in dem Sinn, wie konservative Deutsche damals die Nation verstanden. Graetz und seine Nachfolger behaupteten, es gebe eine ethnische Kontinuität vom Königreich David bis heute. In den Jahrhunderten vor Heinrich Graetz haben die Leute es dagegen so gesehen, wie ich es aufgrund der historischen Fakten feststelle: Das Judentum ist eine Religion. Ein Glaube aus Stahl, der die Menschen sehr fest zusammenhält.

Warum schreiben Sie, das jüdische Volk sei erfunden worden? Sie könnten ebenso gut sagen, es habe sich selbst gefunden.

Sand: Ich bin nicht dagegen, dass Menschen sich als Juden definieren. Wer nach Adolf Hitler Solidarität unter Juden ablehnt, ist ein Idiot. Ich habe nichts dagegen, dass man sich selbst eine Identität gibt. Nicht mal dann, wenn sich jemand als Arier definieren würde - solange diese persönliche Fantasie keine negativen Folgen für seine Umgebung hat. Ich habe etwas dagegen, wenn jemand eine solche Identität dafür nutzt, sich gegen andere abzuschotten, Hass zu schüren und Rassismus zu verbreiten. Seit Hitler ist eine Solidarität unter Juden sehr sinnvoll. Aber diese lässt sich rational nicht daraus begründen, dass Juden eine Ethnie seien, auch nicht im Sinne einer Nation. Schon gar nicht darf diese Begründung dazu dienen, dass sich Juden in Israel wie die Hausherren verhalten.

Dass die Juden schon in den dreißiger Jahren als Volk galten, hat Ihrem kommunistischen und areligiösen Vater das Leben gerettet. Er durfte aus diesem Grund aus Polen in die Sowjetunion fliehen, nach Usbekistan, wo er und seine Frau den Nazis entkamen.

Sand: MeinVater wurde tatsächlich als Jude gerettet, und zwar von Stalin. Er war kein Zionist, aber er unterstützte die Gründung Israels, wie viele Linke damals.

Was verstehen Sie unter Religion?

Sand: Sie ist die dominante kulturelle Errungenschaft der Menschheit. Religiöse Identitäten wird es auch dann noch geben, wenn es nirgendwo auf der Welt mehr so etwas wie eine nationale Identität geben sollte. Daher glaube ich nicht, dass ich Juden oder das Judentum verletze oder unterbewerte, wenn ich behaupte, Juden seien keine Nation und kein Volk, sondern eine Religionsgemeinschaft. Auch wenn ich persönlich nicht religiös bin. Mein Vater war es auch nicht, nur habe ich mehr Sympathie für die Religion als mein Vater. Mein Großvater war religiös. Ich habe ihn nie kennengelernt, er wurde im Holocaust ermordet.

Sie stellen die bisherige Geschichtsschreibung über das Judentum radikal infrage. Sie schreiben: Anders als oft behauptet, hätten die Römer die Juden im Jahr 70 nach unserer Zeitrechnung gar nicht aus Palästina vertrieben.

Sand: Ich habe bekanntes Wissen neu geordnet. Dass die Juden ins Exil vertrieben wurden, gilt gemeinhin als größte Katastrophe des jüdischen Volkes. Doch die "Galut", wie das Exil auf hebräisch heißt, hat es nie gegeben. Es gibt auch keine israelische Forschung darüber, kein einziges Buch! Und keiner fragt warum.

Sie schreiben, die Vertreibung der Juden aus Palästina im Jahr 70 sei eine christliche Erfindung. Wen wollen Sie damit provozieren?

Sand: Niemanden. Ich will informieren. Die israelische Öffentlichkeit kannte diesen Mythos weitgehend nicht. In anderen Ländern wie in Deutschland ist längst bekannt, dass der wandernde Jude im Christentum dafür steht, dass die Juden für die Kreuzigung Jesu bestraft würden.

Sie schreiben ferner, die heutigen Palästinenser seien höchstwahrscheinlich Nachfahren im Land gebliebener und später zum Islam konvertierter Juden. Wenn es so wäre, was folgern Sie daraus?

Sand: Dassdie heutigen Juden keinen automatischen Besitzanspruch auf dieses Land haben, auf Palästina. Dass Palästinenser die Nachfolger der alten Judäer seien, haben David Ben Gurion und Itzhak Ben-Zwi schon 1918 geschrieben - der spätere Staatsgründer Israels und sein zweiter Präsident. Die antiken Bewohner Judäas waren Juden und Heiden, bevor sie Christen und später Muslime wurden.

Wie reagiert man in Israel auf Ihre Aussagen, früher sei das Judentum missionarisch sehr aktiv gewesen und heutige Juden seien Nachfahren konvertierter Völker?

Sand: Die meisten Experten reagieren darauf gar nicht, was mich überrascht. Ich beziehe mich sowohl auf römische Quellen als auch auf den Talmud, das jüdische Auslegungswerk zur Bibel. Das Judentum war vom 2. Jahrhundert vor bis zum 2. Jahrhundert nach der allgemeinen Zeitrechnung die erste Religion, zu der andere konvertierten. Jerusalem war damals eine kosmopolitische Stadt. Das Judentum war pluralistisch und offen für hellenistische Einflüsse. Wenn es damals nicht massenhafte Bekehrungen zum Judentum gegeben hätte, würden heute nur noch so viele Juden existieren wie Samariter - ich schätze mal: eintausend.

Wenn Sie recht haben, dann würden heute auf israelisch-jüdischer Seite die Nachfahren der im Kaukasus lebenden Slawen kämpfen. Und auf palästinensischer Seite die Nachfahren der alten Israeliten.

Sand: Das ist sehr wohl möglich - eine Ironie der Geschichte.

Wenn Israels Staatsgründer Ben Gurion davon wusste, warum wollte er dann einen Staat, in dem mehrheitlich Juden leben?

Sand: Erst infolge des Massakers an den Juden 1929 in Hebron wurden die Araber nicht mehr als potenzielle Partner des zionistischen Projekts angesehen. Israel sollte übrigens ursprünglich mal Judäa heißen, nach dem Königreich Judäa. Aber in diesem Fall hätte man alle Staatsbürger Juden genannt, auch die arabischen. Auch der Name "Zion" fiel durch, sonst wären alle Bürger "Zionisten". Im Übrigen stimmt auch dies: Die Palästinenser sind nicht notwendigerweise die direkten Nachfahren der Judäer. Sie haben sich schließlich mit den vielen Völkern vermischt, die seither das Land besetzt hielten. Allenfalls ist die Chance, dass ein Palästinenser aus Hebron Vorfahren unter den alten Judäern hat, größer als bei mir oder bei Ihnen.

Wie wünschen Sie sich das zukünftige Israel?

Sand: Mein Ideal wäre, wenn Juden und Araber zwischen Jordan und Mittelmeer zusammenleben könnten. Aber das ist unrealistisch, weil die allermeisten Israelis dies ablehnen. Also halte ich zwei Staaten für die beste Lösung: Israel und Palästina. Ich spreche Israel ja nicht das Existenzrecht ab. Ich will nur, dass es sich nicht mehr als jüdischen Staat definiert. Was sich am ehesten realisieren ließe, wäre das britische Modell: eine jüdische Dominanz und eine weitgehende Autonomie der palästinensischen Israelis. Unsere Zukunft hier hängt davon ab, ob die israelische Politik bezüglich der jüdischen Identität des Staates umzudenken lernt. Ohne eine solche Wende wird Israel irgendwann nicht mehr existieren.

Wünschen Sie sich einen Pluralismus, wie es ihn im antiken Judentum schon einmal gab?

Sand: Ja, obwohl ich ungläubig bin. Ich würde es begrüßen, wenn die jüdische Reformbewegung in den USA, die nicht zionistisch war, sondern humanistisch und offen wie die deutschen Reformjuden, zu ihren Wurzeln zurückkehren würde. Ich würde auch eine Annäherung zwischen Juden und Moslems begrüßen, sogar ein Zusammengehen. Die meisten Juden in Israel sind nicht religiös, für sie bedeutet ihr Glaube nichts. Die orthodoxen Juden jedoch pochen immer wieder auf die biologische Komponente der jüdischen Identität. Damit müssen sie aufhören.

Sie waren jahrelang Aktivist einer sozialistischen und antizionistischen Gruppe und wurden sogar wiederholt verhaftet. Ist auch Ihr Buch in erster Linie ein politischer Akt?

Sand: Auch. Richtig ist, dass ich jahrelang demonstriert und Flugblätter verteilt habe. Jetzt lädt man mich ins Fernsehen ein und interviewt mich, denn ich schreibe als Wissenschaftler, als Professor, und genieße deswegen ein wenig mehr Respekt. Die israelischen Medien waren sehr interessiert an mir. Ich war in 15 Fernsehsendungen. Ich wurde sogar in jüdische Siedlungen eingeladen, um über das Buch zu sprechen. Das lehnte ich ab: In die besetzten Gebiete fahre ich nur auf Einladung von Palästinensern.

Ihr Buch erscheint bald auf Arabisch. Fürchten Sie, von den Falschen vereinnahmt zu werden?

Sand: Doch, sehr. Daher freue ich mich, dass der arabische Verleger Palästinenser ist und kein Syrer oder Libanese. Ansonsten stören sich auch die arabischen Nationalisten an meinen Thesen. Der palästinensische Intellektuelle Sari Nusseibeh lud mich zu seiner Universität in Ost-Jerusalem ein, wo auch Palästinenser meine Thesen heftig diskutierten. Ich forderte einen neuen israelischen Staat, aber eben doch einen israelischen. Schließlich muss man auch das Lebensrecht jedes Kindes anerkennen, egal unter welchen Umständen es gezeugt wurde.

Sie plädieren dafür, dass Israel die palästinensischen Flüchtlinge dafür entschädigt, dass es ihr Land beschlagnahmt hat. Fordern Sie auch, dass Palästinenser in ihre früheren Heimatdörfer auf dem Gebiet des heutigen Israel zurückkehren können?

Sand: Nein. Israel soll die Verantwortung für das Flüchtlingsproblem anerkennen und eine begrenzte Rückkehr erlauben. Aber ich bin gegen ein generelles Rückkehrrecht der Palästinenser nach Israel, weil es die kulturelle Existenz der Israelis gefährden würde. Ich will aber auch, dass wir das sogenannte Rückkehrrecht für Juden abschaffen. Israel soll nur noch den Juden Schutz anbieten, die wegen ihrer Religion verfolgt werden. Es soll aufhören, der Staat aller Juden der Welt zu sein. Es soll Staat aller Israelis sein - Juden wie Araber. So wie Deutschland Staat aller Deutschen ist, nicht nur der Christen.

Warum stören Sie sich daran, dass Israel ein jüdischer Staat ist?

Sand: Ich lebe in einem Staat, der sich für religiös hält und mir religiöse Gesetze aufzwingt. Da bin ich sehr empfindlich: Ich werde in Israel niemals eine Kopfbedeckung tragen. Als ich in Paris studierte und Juden mich zum Schabbat einluden, ging ich mit ihnen in die Synagoge. Bei einer Hochzeit setzte ich eine Kippa auf, aus Respekt vor meinen Freunden. In Israel würde ich weder das eine noch das andere tun, weil es hier keine Trennung zwischen Staat und Religion gibt. Ich würde hier nie eine Synagoge betreten.

Haben auch Sie mit 13 Jahre Ihre Bar-Mizwa gefeiert, die jüdische Konfirmation?

Sand: Meine Eltern haben keine religiöse Zeremonie organisiert, nur eine Party.

Religiös geheiratet?

Sand: Es war eine zivile Eheschließung in Paris. Fragen Sie mich doch mal nach meiner Beschneidung!

Und - sind Sie beschnitten?

Sand: Die jüdischen Kommunisten und die Intellektuellen vor dem Holocaust ließen ihre Söhne nicht beschneiden. Auch mein Vater wollte das nicht. Wir lebten 1946 im Lager für Displaced Persons, für Holocaustüberlebende, in Traunstein bei München. Eines Tages reiste er zu einer Demonstration nach Hamburg gegen die Blockade des Flüchtlingsschiffs "Exodus", das Juden nach Israel bringen sollte. Meine Mutter und ihre Schwester nutzten seine Abwesenheit und ließen mich beschneiden. Ich halte dies aber für vollkommen überflüssig für meine Identität.

Fragen: Igal Avidan

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