An dem Morgen, als das Präsidentenflugzeug in Russland abstürzte, saß ich gerade im Zug nach Warschau. Überall um mich herum klingelten Handys. Auch bei mir riefen unentwegt Leute an – Freunde, Familie, Eltern, Regierungsvertreter, Kollegen. Die Anrufe waren sehr emotional und panisch, denn viele dachten, ich sei in der Unglücksmaschine gewesen. Als evangelischer Militärbischof wäre es ja meine Aufgabe gewesen, an der Gedenkstunde für die Toten des Massakers bei Katyn teilzunehmen. Aber nicht ich war an Bord, sondern mein Stellvertreter Adam Pilch.
Adam und ich hatten uns ein paar Tage zuvor getroffen. Vor uns auf dem Tisch lag ein Stapel mit Einladungen, die wir aufteilten. Für Samstag, den 10. April 2010, gab es zwei Termine – einen um acht Uhr und einen um elf Uhr. Adam sagte: „Wenn du willst, nehme ich den frühen Flug nach Katyn.“ Adam war ein sehr hilfsbereiter Mensch. Er fand, es sei doch praktischer für mich, wenn ich den späteren Termin nehme. Ich war damals erst wenige Wochen Militärbischof und wohnte mit meiner Familie noch 450 Kilometer von Warschau entfernt. So kam es, dass ich an diesem Samstag auf dem Weg zur Synode war und nicht im Flugzeug saß.
Direkt nach dem Absturz klammerte ich mich an die Hoffnung, dass Adam irgendwie überlebt hat. Das Licht in dem schwarzen Tunnel war, dass zwei Flugzeuge zu diesem Termin unterwegs gewesen waren. Meine letzte Hoffnung starb, als ich mit Adams Chauffeur telefonierte und ihn fragte, zu welchem Flug er Adam gebracht hatte. Es war das Präsidentenflugzeug.
Ich dachte: Eigentlich hätte es mich treffen sollen
Mir schossen Tränen in die Augen. Gleichzeitig fühlte ich mich wie tiefgefroren, ich spürte gar nichts. Ich dachte: Eigentlich hätte es mich treffen sollen. Dass Adam tot ist, ist ein Missverständnis, ein Fehler! Mehr als einen Monat war ich nicht ich selbst. Ich habe in meinem Leben viele sinnlose Todesfälle erlebt. Als Geistlicher habe ich sterbende Kinder und schwerkranke Menschen gesehen, ich habe erlebt, wie Menschen plötzlich starben und wie ihre Familien leiden. Der Absturz bei Smolensk war für mich ein weiterer Tod, dessen Sinn ich nicht verstehen kann.
Nach dem Absturz nahm ich mit Adams Frau Kontakt auf. Die Gespräche, die wir führten, waren rein technisch: über den Ablauf der Beerdigung, über Dokumente, die unterschrieben werden mussten. Ein tiefes emotionales Gespräch oder eine Auseinandersetzung gab es nicht. Heute treffe ich Adams Frau immer wieder im Gottesdienst. Es ist eine heikle Situation. Ich möchte Beistand geben, wenn sie es will. Aber ich laufe ihr nicht hinterher. Ich respektiere ihre Trauer. Es war Adams letztes Dienstjahr vor der Pension, und es sollte auch sein letzter Flug sein.
Im April, direkt nach dem Absturz, fühlte ich mich schuldig. Ich brauchte meine Zeit, ich musste viel nachdenken. Ich sprach viel mit meiner Frau darüber, sie hat mir sehr geholfen. Es dauerte fast zwei Jahre, bis ich die Schuldgefühle überwinden konnte. Heute denke ich: Unabhängig davon, wer in dem Flugzeug saß, die Maschine wäre abgestürzt, es hatte nichts mit Adam zu tun und nichts mit mir. Keiner von uns hat da einen Einfluss drauf. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren.
Ich verabschiede mich heute viel bewusster von meiner Familie
Wenn ich heute in ein Flugzeug steige, denke ich nicht daran, dass es abstürzen könnte. Das Unglück hat auch nichts daran geändert, wie ich das Leben sehe. Ich lebe nicht bewusster. Ich bin ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch und schätze mein Leben, nach wie vor. Vielleicht klingt das jetzt nicht populär, aber die Katastrophe hat an meiner Lebensgestaltung nichts verändert.
Allerdings – auf eines achte ich doch mehr als vor dem Unfall. Es war mir zwar schon immer wichtig, mich von meinen drei Kindern und meiner Frau in Frieden zu verabschieden, aber mittlerweile mache ich das viel bewusster. Wenn ich wegfahre oder weggehe, versuche ich, das Haus in Frieden zu verlassen und nicht mit Wut oder Zorn. Alles, was mich und meine Familie betrifft, soll geregelt sein.
Protokoll: Barbara Schneider