Illustration: Tina Berning
Wie schämt man sich eigentlich richtig? Eine kleine Anleitung zum Umgang mit Scham, Schuld und Emma Peel von Klaas Huizing
21.02.2012

„Dein Onkel steht heute in der Zeitung“, sagte meine Mutter, als ich, es war ein Freitag im Sommer 1968, verschwitzt und genervt aus der Schule kam. Es klang leicht vorwurfsvoll. Strichschmale Lippen. Ein Anflug von Rot auf ihren Wangen. Die „Grafschafter Nachrichten“ lagen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Tatsächlich. Mein Onkel saß, seine Augen hinter einer mächtigen Sonnenbrille verborgen, an einem Tisch neben einer Schauspielerin, die ich sofort erkannte: Emma Peel aus „Schirm, Charme & Melone“. „Warum sitzt Onkel Jaap denn neben Emma Peel?“ – „Dein Onkel sitzt nicht neben Emma Peel, sondern neben der Schauspielerin Diana Rigg, die die Emma Peel verkörpert.“ Ich verdrehte kurz die Augen. „Okay, und warum sitzt er neben Diana Rigg?“

„Es ist völlig unnötig, dass du deine Augen überanstrengst, ich sage es dir gerne: Die Textilfirma Povel hat eine Emma-Peel-­Kollektion auf den Markt gebracht, alles untragbarer Plunder, aber damit schafft man es immerhin in die Zeitung. Diana Rigg ist eine kleine Berühmtheit, und dein Onkel ist für eine Woche der Hüter von Diana Rigg und passt auf, dass sich ihr kein Verrückter nähert. Die Welt ist mit Verrückten überfüllt. Und jetzt geh in die Küche und iss dein Mittagessen, bitte, ich habe dir ­frische Kartoffeln kochen lassen.“ Meine Mutter schämte sich ­offenbar für ihren Schwager, der so gar nicht den klassischen Berufsbildern meiner calvinistischen Verwandtschaft entsprach.

Der schlimmste Vorwurf, zu dem sich meine Mutter in Erziehungsfragen hinreißen ließ, lautete: Schäm dich! Die Note Gut im Fach Religion wurde mit „Schäm dich!“ bestraft oder, bei meiner älteren Schwester, das Knutschen in der Öffentlichkeit. Heute scheint dieses Anstandsgefühl, das für meine Mutter unhinterfragt durch das calvinistische Weltbild geprägt war, verwahrlost zu sein. In nachmittäglichen Talksendungen geben Gäste für eine Fünfminutenberühmtheit schamlos ihr Innerstes preis. Und in einem auflagenstarken Jugendmagazin überboten sich vor ­wenigen Monaten sehr junge Frauen mit Schambekundungen über ihre falschen Lippen, Brüste und Ohren. Was überhaupt ist Scham? Und wie schämt man sich richtig? Vier Vorschläge zum Umgang mit einem bisweilen verstörenden Gefühl.

1. Nimm deine Scham vorweg!

Widerfährt uns die Scham, dann entflammt die sprichwörtliche Schamröte, die Stimme versagt, man wird stumm, senkt den Blick, wird vielleicht anschließend bleich, möchte am liebsten im Boden versinken und unsichtbar werden („man schämt sich zu Tode“), um den Blicken und Kommentaren der anderen nicht ­länger ausgesetzt zu sein. Plötzlich ist man in radikaler Weise mit sich selbst konfrontiert, vollständig auf sich zurückgeworfen, fühlt sich nackt, fragt sich, wie es zu dieser Bloßstellung in den Augen der anderen kommen konnte. Weil sich Scham immer schlecht anfühlt, will jeder künftig dieses Gefühl möglichst vermeiden. Positiv kann die Scham deshalb in dem Versuch münden, sich nachhaltig persönlich und sozial zu bessern – die Scham steuert dann unsere künftigen Handlungen. Die Erfahrung mit Situationen der Scham (ich schäme mich in der U-Bahn in der An­wesenheit meines Kindes, Übergriffe auf Dritte nicht unter­bunden zu haben) kann künftig helfen, durch vorweggenommene Scham – wenn ich mich also rechtzeitig durch eine angemessene Handlung schütze – das reale Eintreten der Scham zu verhindern.

2. Verschiebe nicht Scham zu Schuld!

Das Alte Testament, das eine reich bebilderte Kulturgeschichte der Scham bietet, zeigt in vielen Geschichten, wie wichtig – wenn auch unangenehm – die Erfahrung der Scham ist: In der Scham erfahren wir unsere eigene Unvollkommenheit, erfahren wir zugleich die Störung in der Kommunikation zwischen Menschen und zwischen uns und Gott. Negativ kann die Scham dazu führen, die peinliche Situation dadurch zu lösen, dass man von der Scham ablenkt, die Scham verschiebt und an anderen schuldig wird. So erschlägt etwa Kain, um an ein berühmtes und extremes Beispiel zu erinnern, seinen Bruder Abel – den Zeugen seiner Scham. Mit Schuld scheint es sich oft besser zu leben als mit der Scham. Erstaunlicherweise scheint Scham stärker als Schuld zu sein, sie bedrängt mehr, man flieht lieber in die Schuld, als in der Scham zu bleiben. Dies scheint deshalb ein gelungener Versuch zu sein, weil der Schämende in der Schuld die aktive Rolle zurückgewinnt. In der Scham leidet er passiv, die Schuld wirkt, obwohl sie Beziehungen zerstört, attraktiver, weil sie mit Souveränitätsgefühlen lockt. Nahezu alle bildmächtigen biblischen Geschichten, die unser Schamverhalten maßgeblich geprägt haben, laufen nach diesem psychologischen Muster ab.

3. Unterlasse peinliche Auftritte, die andere zum Fremdschämen zwingen!

Scham ist sehr viel umfassender als die Schuld. Schämen kann ich mich für alles, mit dem ich mich verwandt fühle: Ich kann mich schämen für die Verbrechen einer Nation oder für die gewalttätigen Fans des Fußballclubs Ajax Amsterdam, in dessen Bettwäsche ich in der Frühpubertät schlief. Schuld dagegen ist an persönliche Handlungen gebunden und somit unvertretbar, aber schämen kann ich mich für Taten von Personen, denen ich mich zugehörig fühle, über Generationen hinweg und entsprechend meinen Teil dazu beitragen, dass künftig diese Situationen nicht wieder eintreten.

Wenn ich mich mit einer Gruppe, einer Sache, einem Wert identifiziere, kann mich die Scham auch stellvertretend ereilen. Das heute oft in der Alltagssprache verwendete Wort „fremdschämen“ bezieht sich auf diesen Sachverhalt: Darin spiegelt sich die Einstellung, dass jeder Mensch für sein Umfeld Verantwortung trägt. Oft verschiebt sich hier die Scham hin zu Peinlichkeit: Man ist dann nur noch „peinlich berührt“, die Situation ist aber einem nicht „entsetzlich peinlich“, man senkt noch den Blick, will aber nicht vor Scham im Erdboden versinken. Erfahrungen mit dem Fremdschämen können helfen, mögliche eigene peinliche Auftritte (auch auf Facebook, Twitter, Youtube) zu unterlassen.

4. Vermeide das Falschschämen!

Schamgrenzen können sich verschieben, Scham ist ein hoch­gradig soziales Gefühl. An den großen biblischen Erzählungen lässt sich zumindest ein formales Verständnis von Scham ablesen. In religiöser Sicht erfüllt sich Leben in der Gottebenbildlichkeit, in einem Verhalten, das den anderen Menschen nicht instrumentalisiert und demütigt, sondern liebend als Zweck an sich wahrnimmt. Erfahrungen der Scham dokumentieren das zeitweilige Misslingen dieser Aufgabe.

In den biblischen Geschichten schämen sich Frauen, wenn sie kinderlos bleiben, etwa in der Geschichte von Lots Töchtern, die aus Scham mit ihrem Vater inzestuös verkehren. Die Scham wird hier diktiert vom Interesse einer männlich dominierten Stammeskultur, die eine zahlen- und damit wehrkräftige Größe ihrer Gruppe sichern will. Falsche Scham liegt aber auch vor, wenn ich mich für meine Ohren schäme, weil ich fürchte, ausgemachte ästhetische Mängel würden von Dritten auf die ganze Person übertragen. Leichtfertig unterwirft man sich einer Logik, die die eigene Person als Zweck an sich gar nicht in den Blick bringt.
Auch ich habe mich häufig falsch geschämt. Jahrelang bin ich mit S-Bahn und U-Bahn von Starnberg nach München zur Universität gependelt und habe in der Vorbereitung auf ein Seminar die Bibel gelesen, allerdings eingebunden in den knallbunten ­Umschlag eines Kommissar-Wallander-Krimis. Ich habe mich für die Bibellektüre geschämt, wollte keinesfalls mit bibelfundamentalistischen Gruppierungen in Verbindung gebracht werden. ­Wiederholt kam es zu sehr anregenden kurzen Gesprächen über Kommissar Wallander. Die Liebe zu Wallander ist leicht abgekühlt, die Liebe zur Bibel ist eher gewachsen. Großartige Literatur. Kein Grund, sich für diesen Geschmack zu schämen.

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Sehr geehrte Damen und Herren,

als ZEIT-Leserin finde ich mitunter Ihr Heft in der Zeitung und lese es immer sehr gerne. Ich finde vieles gut, auch die ganze Aufmachung des Heftes. Kompliment!  Der Artikel über das "Schämen" im letzten Heft hat mir besonders gut gefallen. Nun weiß ich, dass die Art des Schämens in der eigenen kleinen Aufzeichnung das sog. "Fremdschämen" betrifft. ich möchte es Ihnen zur Kenntnis geben, auch zum Weiterreichen an den Autor. Es kam mir mal spontan in den Sinn. Ansonsten befasse ich mich gar nicht mit dem Schreiben, da kommen nur gelegentlich mal Kleinigkeiten wie diese zustande: Ich bin 77 Jahre alt und habe das Dritte Reich als Kind in aller Härte miterlebt.

Resümee eines Lebens in Deutschland

Wenn ich über das Dritte Reich und den Holocaust nachdenke,
schäme ich mich, deutschstämmig zu sein!

Wenn ich über Missionierung und Kolonisierung nachdenke,
schäme ich mich, der weißen Rasse anzugehören!

Wenn ich über Massentierhaltung, Tiiertransporte und Tierversuche nachdenke,
schäme ich mich, ein Mensch zu sein!

Freundliche Grüße - Renate Ohmen