Paula Winkler
Laut, lebendig, krachend
Als Kind stotterte er und fraß sich fett. Irgendwann kam der Befreiungsschlag. Heute steht Frank Büttner auf der Bühne. Und therapiert Straftäter.
20.02.2012

Berlin, Volksbühne. Ödön von Horváths „Revolte auf CÔte 3018 – Die Bergbahn“ geht gerade zu Ende. Großer Beifall. Einer, der zunächst einen biederen Friseur gespielt hat und zum Schluss eine aufgetakelte Hausdame – platinblond, eng anliegendes Glitzerkleid, High Heels – wird mit Bravorufen bedacht. Die „Dame“ grinst ein bisschen verschämt, als stünde ihr so viel Ehre nicht zu, bis sie sich die Perücke vom Kopf reißt und lässig Kusshände ins Publikum wirft. Nun, mit kurz rasiertem markantem Schädel, 1,88 groß, breitschultrig und muskulös, verwandelt sich die skurrile Kunstfigur zurück in den Schauspieler Frank Büttner. Der weiß natürlich, dass dem Publikum diese ­groteske Maskerade gefällt und stakst, aufreizend die Hüften schwingend, von der Bühne. Sendet dorthin ein Lächeln, hierhin ein Augenzwinkern, nach hinten ein Winken und schließlich ein bedauerndes Achselzucken: Sorry, ich muss jetzt wirklich gehen.

„Ich weiß gar nicht, was die Leute an mir finden. Ich hab nie ’ne Schauspielschule besucht und bin im Grunde nichts weiter als ein Menschendarsteller“, sagt er ein bisschen kokett.

Frank Büttner stellt Menschen dar, genau so, wie er sie kennengelernt hat. Das Kennenlernen fing in der eigenen Familie an, setzte sich fort in der Schule und reicht bis zu den entlassenen Gewalt- und Sexualstraftätern, die er in seinem eigentlichen Beruf als Sozialtherapeut betreut. Aus diesem Fundus schöpft er für seine Rollen. Die Art seiner Darstellung in Stücken von Dostojewski, Seneca, Lenz, Hauptmann, Brecht oder Tschechow ist anrührend und überzeugend in ihrer Einfachheit. Sehr kunstvoll ist sie nicht. Oder vielleicht doch, weil Büttner den Eindruck ver­mittelt, dass sich die Bühnenfigur in ihn selbst verwandelt und nicht er sich in die Figur.

"In meiner Kindheit war es eiskalt, außen wie innen"

Franks Eltern, beide Heimatvertriebene – aus Ostpreußen die Mutter, aus Schlesien der Vater –, hatten sich unterwegs in einem Flüchtlingslager kennengelernt. Da war die von Russen mehrfach vergewaltigte Großbauerntochter von Brandverletzungen entstellt und kaum noch lebensfähig. Obwohl ihre Wege getrennt wurden, blieben sie in Kontakt und heirateten 1959 in Berlin. Zwei Kinder wurden geboren: noch vor der Hochzeit ein Mädchen und anderthalb Jahre später Sohn Frank. Die Familie lebte in einem kleinen Häuschen im Ostberliner Vorort Bernau.

„Meine Eltern waren mit uns Kindern total überfordert. ­Meine Mutter ertrug weder Nähe noch Berührung und mein Vater rastete bei jeder Kleinigkeit aus. Ich bin fast krepiert vor Einsamkeit.“

Aus dieser inneren Iso­lation versuchte sich der Sechsjährige regelrecht herauszufressen. Das war nicht schwer, denn der Vater, ein Fleischer, sorgte immer für eine gefüllte Speisekammer. Frank wurde fett. „Wenn ich pinkelte, konnte ich nicht sehen, woher der Strahl kommt“, erzählt er. Außerdem stotterte er stark. Er sonderte sich ab und wurde zum Punchingball für seine Mitschüler. Beklagte er sich zu Hause, gab es noch Dresche dazu. Seine Sprach­störungen wurden so schlimm, dass er sich vor Verhaspelun­gen kaum noch verständigen konnte. Schließlich verstumm­te er ganz. Dass er Legastheniker war, erkannten weder Eltern noch Lehrer. Er wurde Jahr für Jahr versetzt.

„In meiner Kindheit war es eiskalt, außen und innen. Ich wurde von keinem behütet. In der Schule versuchte ich irgendwann, den Klassenclown zu spielen, ein Clown mit Tränen. Sie lachten nicht über mich, sie lachten mich aus. Ich blieb ausgeschlossen, auch von den Lehrern. Auf Klassenfahr­ten durfte ich nicht mit. Als hätte ich die Pest.“

Zum ersten Mal in meinem Leben ging es mir gut.

Zu Hause war er in einer eisigen Dachkammer untergebracht. Im Winter war es so kalt, dass er sich nachts in das Schlafzimmer der Eltern schlich. Vor dem Bett der Mutter hatte er Angst, der brubblige Vater stand ihm da näher. „Ich kroch zu ihm, kuschelte mich an ihn, spürte seine Wärme. Zum ersten Mal in meinem Leben ging es mir gut. Aus Dankbarkeit fasste ich ihn zärtlich an und streichelte ihn. Es schien ihm zu gefallen. Von da an schlich ich mich jede Nacht in sein warmes Bett und war dankbar dafür, dass er mich bei sich behielt. Es war eine Art Missbrauch, den ich an ihm beging.“

In der vierten Klasse revoltierte sein geschundenes Ich. Er wollte nicht länger jedermanns Fußabtreter sein. Bei der nächsten Provokation schlug der schwere, starke Junge zurück. Mit einer solchen Wut und Wucht, dass der viel größere Angreifer auf den gusseisernen Wasserhahn stürzte und sich ein tiefes Loch in den Schädel schlug; er entging nur knapp dem Tod. Polizei, Gericht und der Strafbescheid für die Eltern bewogen Frank, von nun an nie mehr einen anderen Menschen gewaltsam zu berühren. Heute noch, mit 50, hat er Angst, jemandem wehzutun.

"Ich lernte, dass man alles schafft, wenn man es wirklich will"

Etwas Erstaunliches geschah: „Bei den anderen hatte ich von da an Respekt, obwohl ich blieb, wie ich war: dick, stotternd, immer für mich allein und der schlechteste Schüler der Klasse. Aber ich hatte mich frei geschlagen, mich gewehrt und mich behauptet. Ich lernte, dass man alles schafft, wenn man es wirklich will.“ Das trifft inzwischen auch auf den Schauspieler Frank Büttner zu.

Andreas Merz, der Regisseur der „Bergbahn“ sieht das so: „Ja, er hat eine starke, überzeugende Authentizität. Seine Rolle als Friseur Max Schulz ist eigentlich klein und schmal und so sind viele seiner Rollen. Aber als Erscheinung ist er größer als die meisten seiner Mitspieler, und dem muss man als Regisseur Rechnung tragen.“ Max Schulz stirbt in der Mitte der Handlung. Merz wollte Büttner dem Stück erhalten und gab ihm zusätzlich den Part des Hausmädchens. Der stimmte zu, mit einer Bedingung: „Nicht in Kittelschürze und Holzpantinen, sondern als Vamp.“ Merz ließ ihn agieren. 

In diesem Moment kommt Frank Büttner um die Ecke, groß, lässig, verschwitzt. Lauthals und in verschmitzter Besorgnis ruft er dem Regisseur im Vorbeigehen zu: „Hallo, mein Freund, ich hoffe, du hattest heute schon anständigen Sex.“

Nach dem Abschluss der 8. Klasse entlässt ihn die Schule. Ungewöhnlich in der bildungsbeflissenen DDR, noch dazu, wenn man nicht sitzengeblieben ist. Sein Vater bestimmt, dass er Fleischer wird, so wie er selbst. Das verhindert jedoch eine ärztliche Untersuchung, die Frank ein Hohlkreuz bescheinigt. So fängt er mit 14 bei der Bahn an, lernt Rangierer und ist mit 18 Gleisbauer. Der harte Job, den er zehn Jahre lang ausübt, streckt ihn und macht ihn muskulös.

Aber das ist nicht sein Traumberuf, er verlässt die Bahn. Er geht nach Berlin und mietet sich in eine von Studenten besetzte Wohnung im Künstler- und Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg ein. Groß, blondstoppelig, breitschultrig macht er etwas her. Eine zehn Jahre ältere Studentin verliebt sich in ihn. Zwei Jahre leben sie zusammen. Den Diskussionen der Studenten kann er nicht folgen. Außerdem stottert er immer noch. Er fühlt sich ausgeschlossen, fremd, wertlos. Eines Tages sagt seine Freundin, in Wirklichkeit sei er schwul. „Es traf mich wie ein Schlag. Sofort fielen mir die kindlichen Szenen im Bett meines Vaters ein. Aber es war ja damals so kalt . . .“ Die beiden trennen sich.

Er jobbt als Model, kommt mit dem Neuen Forum in Kontakt

Frank muss Geld verdienen, jobbt als männliches Model beim Berliner Mode-Institut und verdingt sich als Modell für Kunst- und Grafikschulen in Berlin, Dresden und Leipzig. Auf den ­Feten dort lernt er interessante Leute kennen, wird mit oppo­sitionellen Gruppen bekannt, kommt mit dem „Neuen Forum“ um Bärbel Bohley in Kontakt und hört immer wieder von dem aufrührerischen Theater eines Frank Castorf. Der Aufruhr rundum möbelt ihn innerlich auf. Er will heraus aus der Gummihülle, in die er sich seit seiner Kindheit eingeschweißt fühlt, will auch kein Anschauungsobjekt für Mode, Kunst oder sonst etwas sein – er will lernen, arbeiten, leben. 

Er meldet sich in der Volkshochschule an, die ihn endlich als Legastheniker erkennt und auch akzeptiert und macht ohne große Schwierigkeiten den Abschluss der 10. Klasse nach. Anschließend arbeitet er als Pfleger in einem Altenheim und als Betreuer in einer psychiatrischen Einrichtung. „Es war umwerfend für mich, als ich merkte, dass mich die psychisch Gestörten und die mit dem Gesetz kollidierten Menschen annahmen. Unbewusst machten sie mir Mut, mich endgültig auf sie einzulassen. Ich bewarb mich für ein Hochschulstudium in Sozialfürsorge und wurde zugelassen. Endlich wusste ich, ich bin bei mir angekommen.“

"Es war umwerfend, als ich merkte, dass mich die psychisch Gestörten annahmen"

Kurz vor der Wende stirbt seine Großmutter in Essen. Frank darf seine Mutter zur Beerdigung begleiten. Eine Chance, den Westen zu besichtigen. Nichts als Enttäuschung! „Ich empfand den Umgang dort als grell, kalt und sozial ungeordnet. Im Westen wollte ich niemals leben. Als die Stasi mich scheinheilig nach meinen Eindrücken fragte, sagte ich: ‚Warum öffnet ihr die Mauer nicht? Was gibt es dort, was unsere Leute hier nicht sehen dürfen?‘ Sie verstanden mich nicht.“

Nach Beendigung seines Sozial-Studiums nimmt Frank Büttner sich eine Auszeit und fliegt nach New York, damals noch das Sehnsuchtsziel vieler Ossis. Er kennt dort niemanden, das Leben huscht an ihm vorbei. „Ich habe mich noch nie so einsam gefühlt wie in Big Apple. Bei den hohen Mieten für das, was sie da Wohnung nennen, schmolz mein Gespartes dahin. Ich brauchte dringend einen Job. Also wurde ich Hilfsarbeiter in einer Fabrik, trug Zeitungen aus, jobbte als Go-go-Tänzer in einer Bar für Rentner und war dort gleichzeitig Kellner. Probleme bei der Arbeit hatte ich nie. Das lag am Nimbus deutscher Wertarbeit und natürlich an meinem Charme.“

Noch zu DDR-Zeiten entdeckte er sich als Schwuler. Er lernte die einschlägigen Bars, die Parks und Toiletten kennen. Aber der schnelle, anonyme Sex lag ihm nicht. „Dabei fehlt mir die Zärtlichkeit, die Sehnsucht und die Erinnerung. Und ich mag nicht ghettoisiert leben. Ich suche immer die Liebe. Aber Liebe mit großartigem Sex natürlich – wie sollte man sonst leben können?! In Amerika fand ich das nicht. So wenig Sex wie dort hatte ich noch nie. Sie reden in einer Tour davon, aber sie tun es nicht.“

Als er zufällig erfährt, dass sein Studium im vereinten Deutschland nichts gilt, kommt er zurück und kümmert sich um die Anerkennung seines Diploms. Die besitzt er nun seit fast 20 Jahren.

Mit dem Regisseur Frank Castorf war es von Anfang an eine Sache ergriffenen Staunens. Büttner schaute sich viele Premieren an, vor und nach der Wende. Nach den Vorstellungen saß er oft mit der Mannschaft unten im Theatercafé, so lernte man sich kennen. Die authentische Arbeit Castorfs, ungekünstelt und stets auf Erkenntnis getrimmt, begeisterte ihn. Beziehungen wurden seziert, immer laut, immer lebendig, immer direkt. Die Inszenierungen krachend, sozusagen. Nichts Glattes, nichts zum Zurücklehnen. Alles uneben, besonders die Charaktere mit ihren Brüchen. Das war Büttners eigenes Leben, war die Widerspiegelung des gesellschaftlichen Umbruchs. Er sagt: „Wir hatten es lange schon gespürt und geahnt. Aber Castorf hat es uns vorgeführt. Wahnsinn!“

Und dann biete ihm Frank Castorf eine Rolle an

1997 ist es so weit: Hauptmanns „Die Weber“. Castorf bietet ihm eine Rolle an. Frank Büttner ist 37 Jahre alt. Neben den Film- und Theaterstars Sophie Rois und Henry Hübchen soll er spielen. Es trifft ihn wie ein Donnerschlag, läutert ihn, spült allen Dreck der Kindheit und Jugend aus ihm heraus. Er zögert. Bei öffentlichen Auftritten hat er noch immer mit seinem Stottern zu tun; aber Castorf interessiert das nicht. Außerdem sei die Rolle so gut wie stumm. „Ja“, sagt Frank grinsend, „ich spielte ’ne Bockwurst im Ganzkörperkondom mit wenig Text und einem Brötchen unter jedem Arm. Aber es war eine der interessantesten Inszenierungen zu jener Zeit.“ Das Lob, das er erntet, verleiht ihm ein ganz neues Selbstwertgefühl. „Castorf gibt einem auch in der kleinsten Rolle das Gefühl, man sei unent­behrlich. Er hat mich total gefordert und mich damit immer ­weiter gebracht. Er war und ist mein Überlebenshelfer. Aber das interessiert ihn nicht wirklich. Er ist einfach so.“  

Kurz darauf kommt der Part des Boxers in Dostojewskis „Der Idiot“ auf ihn zu. Frank Büttner hat sich in einer Kneipenszene zu entblößen und nackt und laut grölend auf einem Tisch zu tanzen – gut sichtbar bis in die hinterste ­Reihe. Das macht ihm nichts aus. Es sei nichts als eine Rolle, eine Verkörperung eben. Und je komplizierter die sei, desto lieber spiele er sie. Diese theatralischen Verkörperungen lassen ihn die immensen psychischen Herausforderungen seines eigentlichen Berufs ertragen. Ein wenig hochtrabend und in freiem Redefluss sagt er: „Nicht mein Beruf, der mir ans Herz gewachsen ist, nein, das Theater erfüllt meine Neugier auf Leben.“

"Ich spielte eine Bockwurst mit Brötchen"

Im Sommer gastierte die „Volksbühne“ mit Dostojewskis „Spieler“ bei den Wiener Festwochen. Die Kritiken waren gut wie lange nicht, besonders für Castorf, aber auch für die Darsteller. Büttner gab die Madame la Veuve de Cominges und den Diener Pota­pytsch. Nicht viel Text, den aber klar und deutlich. „Wahnsinnig gut“ sei er gewesen, schreibt die Wiener Presse. Jetzt läuft „Der Spieler“ in Berlin in der Volksbühne – die nächsten Aufführungen: am 10. und am 17. März. Seit der Ankunft bei sich selbst, wie Frank Büttner es nennt, ist sein Sprechen so gut wie geheilt, nur Lesen und Schreiben sind noch behindert. Seiner Menschendarstellung kommt das zugute. Aber beim Textlernen geht es nicht ohne Vorleser.

In Brechts „Mutter“ spielte er den zum Kommunismus konvertierten Lehrer Wessowitschkow mit einem langen Monolog. Kaum zu glauben, wie er die komplizierte Botschaft in einem einzigen Guss aus sich heraussendete. Eigentlich brauchte er gar nichts zu sagen. Allein wenn er mit seinem langen, sackartigen Mantel stumm an der Wand lehnt, stiehlt er allen anderen die Show.

Inzwischen hat er die Liebe gefunden: Mit José, einem Kostüm- und Bühnenbildner aus Venezuela. „Er ist mein warmherzigster, verlässlichster, liebster Mensch“, sagt Büttner. Die beiden haben geheiratet und leben in getrennten Wohnungen im selben Haus in der Mitte Berlins. „Getrennt wohnen, zusammen schlafen, das ist mein Beziehungsrezept.“

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GLÜCKWUNSCH Frank, du hast es geschafft.

Gruß aus Dresden von deiner ehemaligen Kollegin Elke

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Heute habe ich viele alte Briefe von Frank Büttner gelesen. Ganz-ganz viele, alte Briefe.
einige kamen von Gips str, andere schon von Rosenthaler Str.
...
Dann habe ich begonnon mit allen Käfte zu suchen.... wo Frank heute sein kann...
...nur so.... es ist schon so weit...
viele liebe Grüsse aus Budapest