„Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen. Ich schulde ihnen noch mein Leben“, schrieb die Schriftstellerin Frederike Frei. Was träumen wir, und wie verändert es uns? Sommernächte sind aufgeladen mit kreativen Träumen – und Thema einer außergewöhnlichen Kooperation zwischen der „Evangelischen Stadtakademie Römer9“ in Frankfurt am Main und dem Magazin chrismon. Fünf Künstler tragen ihre Assoziationen zum Thema zusammen. (Video zur Ausstellungseröffnung)
Ihre Kunstwerke illustrieren die Juni-Ausgabe von chrismon ein ganzes chrismon-Kunstheft. Und viele Arbeiten finden sich auch in der Ausstellung in der Frankfurter Akademie: so die nächtlichen Urwaldbilder von Peter Bialobrzeski aus der Serie „Paradise Now“, so Zeichnungen von Bea Emsbach und Edwin Schäfer, in denen Menschen und Natur eng miteinander verflochten sind, so die nächtlichen Tankstellen von Benjamin Nachtwey und die Kinderporträts von Christopher Winter: vermeintlich unschuldig, und doch geeignet, die Fantasien der Erwachsenen zu offenbaren oder Alpträume zu erzeugen.
Ohne Traum hätte Paul McCartney nicht „Yesterday“ komponiert, der Chemiker August Kekulé nicht die Struktur des Benzolrings entdeckt. Dass Träume reine Sinnestäuschung seien, wie der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin behauptete, ist widerlegt. Wahr ist: Glaube, Liebe und Hoffnung bekommen durch nächtliche Einsichten einen mächtigen Schub. chrismon und „Römer 9“ laden Sie ein zu einer gemeinsamen Traumgedankenreise.
Peter Bialobrzeski: Restnatur in den Metropolen
Er streifte durch asiatische Großstädte und suchte nach Orten, an denen Natur und Zivilisation aufeinanderprallen. Unter Autobahnbrücken und an Straßenrändern fand er die „Restnatur“, deren sich die Zivilisation bemächtigt. Warum Asien? „Nirgendwo sonst haben Sie solches Licht, das aus zehn verschiedenen Richtungen gleichzeitig kommt, die Sattheit der Farben, die Vielfalt der Vegetation.“ In den Metropolen der Entwicklungs- und Schwellenländer leben die meisten Menschen, ist der Wachstum rasant. „Hier wird die Zukunft der Welt bestimmt“, sagt Peter Bialobrzeski. Der Fotokünstler arbeitet in Hamburg, lehrt Fotografie an der Uni Bremen. Die Themen Klimaschutz und nachhaltige Wirtschaft beschäftigen ihn seit Jahren. Für „Paradise Now“ machte er Langzeitaufnahmen (vier bis zwölf Minuten), benutzte dazu eine Großformatkamera (4x5 Inches).
Bea Emsbach: Fantasiewesen aus blutroter Tinte
Es müssen Tausende Fantasiefiguren sein, die sie bis heute gezeichnet hat, immer wieder anders, immer wieder überraschend. Ganze Völker von Wesen erweckt sie zum Leben, manche nur aus Köpfen bestehend, manche mit einer eigenwilligen, überreichen Anatomie. „Kopfgeister“ nannten Kritiker die Geschöpfe von Bea Emsbach. Die Zeichnungen der Frankfurterin lassen an die von Michelangelo denken, an anatomische Studien, an medizinische Lehrbücher. Bea Emsbach zeichnet das Allermeiste mit blutroter Tinte. Ihre Figuren sind eifrig in Dialoge und in Interaktionen vertieft. So intensiv, dass sie selbst ihr Blut gemeinschaftlich nutzen: Emsbachs teils schaurige, teils sympathische Wesen tauschen es untereinander durch Schläuche aus. Bea Emsbach wird mit Edwin Schäfer in den Räumen von „Römer9“ ein gemeinsames Werk erschaffen.
Benjamin Nachtwey: Nächtliche Lichtinseln
Er fuhr eines Nachts vom Atelier nach Hause, und da passierte es: Ein merkwürdig irreales Lichtspiel nahm ihn gefangen. Seither malt er Tankstellen. Seit 1996, in wechselnden Variationen – fast immer menschenleer, leblos, meist bei Nacht. Benjamin Nachtwey lebt in Düsseldorf. Nach seinem Medizinexamen studierte er Malerei, unter anderem bei A.R. Penck. Er hat sich viel mit Sigmund Freuds Traumdeutung befasst, sie war eine der Brücken zur Malerei. Tankstellen sind für Nachtwey Metaphern: „Sie haben mit Einsamkeit und Melancholie zu tun. In ihnen steckt eine geheimnisvolle, riesige Energie, die uns antreibt und am Laufen hält.“ Seine Gemälde, mal ganz kleine mit dickem Farbauftrag, mal große mit vielen Details, tragen teilweise die Namen der Ölkonzerne. Das soll aber kein Bekenntnis zu diesen Unternehmen sein.
Edwin Schäfer: Signaturen auf der Wand
Warum nicht auf Wände zeichnen? Der Offenbacher Künstler Edwin Schäfer hat die Wand, unverrückbar und dadurch letztlich unverkäuflich, als eines seiner Medien entdeckt. Hier – aber auch auf Papier – entstehen labyrinthartige Linien, aus denen sich Zeichen und Figuren entwickeln. Das kann ein Gesicht sein, eine Ansammlung von anatomisch anmutenden Zellen, so etwas wie Pflanzenteile. Oder sind es Dinge, die Biologen normalerweise durch ein Mikroskop betrachten? Sind es Ornamente, die wie Pflanzen wirken, oder Pflanzen, bei denen das Ornamentale in den Vordergrund tritt? Edwin Schäfer arbeitet vor Ort, so auch in „Römer9“. Welche Zellstrukturen oder Schriftzeichen, welche Gesichter oder Körper er gemeinsam mit Bea Emsbach eigens für die Ausstellung „Sommer_Nacht_Traum“ entwickeln wird, werden wir sehen.
Christopher Winter: Gefährdete Unschuld
Auf den ersten Blick zeigen viele seiner Bilder unbeschwerte Kinder und Jugendliche. Auf den zweiten kommen oft abgründige Dinge zum Vorschein: sexuelle Fantasien der Erwachsenen, ihr Wunsch nach Macht. Die Unschuld der Kleinen gerät in Gefahr. Christopher Winter, im englischen Kent geboren, in Berlin lebend, malt oft pubertäre Jugendliche, ahnungslose junge Menschen. Winter ist ein guter Psychologe, er sieht sich keinesfalls als Moralist oder Skeptiker. Er erzählt auf der Leinwand Geschichten, gelegentlich mit einem nostalgischen Anstrich, Geschichten, wie sie ihm ähnlich in Märchen, in populärer Literatur oder in der Bibel begegnen. Was ist real, was irreal? Das lässt er offen. Es ist für ihn ein Spiel. Das Titelbild dieser chrismon-plus-Ausgabe trägt den Namen „Transylvania“ – sein Beitrag zum Thema „Sommer_Nacht_Traum“.