Heute wird eine kranke Mutter von den "Ärzten ohne Grenzen" versorgt - morgen stürmen ihre Söhne die Klinik mit Waffen.

Gedankenverloren dreht Annegret Bek das Satellitentelefon in der Hand. Auch ihre Kollegen, die sich in der Abenddämmerung zu Nudeln, Ziegenfleisch und Bier um den Resopaltisch versammelt haben, halten inne und verarbeiten, was Annegret Bek gerade über Funk erfahren hat: Wieder einmal hat es einen von ihnen erwischt.

Diesmal einhundert Kilometer von hier, in Abéché, der staubigen Hauptstadt der ost-tschadischen Wadai-Provinz. Bewaffnete Männer, so heißt es, hatten am frühen Abend mitten in der 80 000-Einwohner-Stadt zwei Geländewagen des Internationalen Roten Kreuzes überfallen und eine Mitarbeiterin angeschossen. Die Täter sollen Uniformen getragen haben. Doch in einem Land, das sich offiziell in einem "Zustand der Feindseligkeit" mit dem Sudan befindet, in dem Gerüchten zufolge auf jeden Bürger durchschnittlich acht Waffen kommen und die ohnehin undurchschaubare Gemengelage zwischen Militär, Rebellen, Stammesangehörigen und Banditen sich fast täglich ändert, sagt das wenig.

Hilfsorganisationen im Fadenkreuz von Kriminellen

Auch hier in Adé, einen Steinwurf von der sudanesischen Krisenprovinz Darfur entfernt, geraten die internationalen Hilfsorganisationen immer wieder ins Fadenkreuz von Kriminellen. Annegret Bek koordiniert als Projektleiterin von Ärzte ohne Grenzen die medizinische Nothilfe für rund 15 000 Menschen, vorwiegend Binnenvertriebene, die in provisorischen Hütten leben. Überfälle gibt es mehrmals im Jahr. Plötzlich standen die Banditen auf dem Gelände der Organisation im Lager, mal am helllichten Tag, mal mitten in der Nacht, mit ihren abgenutzten Kalaschnikows, die Gesichter in staubige Tücher gehüllt. Nahmen sich zielsicher die japanischen Geländewagen, die Satellitentelefone sowie die Gehälter der rund 50 Angestellten aus dem Safe. Und verschwanden so schnell, wie sie kamen.

Der kongolesische Arzt Dr. Kilindizili Bienfait schüttelt den Kopf. "Es ist paradox. Du hilfst den Menschen, und doch gibt es darunter welche, die dir Böses wollen." Betretenes Kopfnicken, auch bei Annegret Bek. Sie ist für die Sicherheit aller in der Klinik und in den Wohnhütten der Mitarbeiter verantwortlich. Zwar sei bislang noch niemand zu Schaden gekommen, sagt sie, doch "die Täter werden brutaler, und mit jedem weiteren Überfall steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass etwas schiefgeht."

Jenseits der stacheldrahtbewehrten Backsteinmauer, wo die Ödnis des tschadisch-sudanesischen Grenzlandes beginnt, feuert jemand eine Gewehrsalve ab. Hat jemand zu Ehren eines frisch vermählten Paares in die Luft geschossen, sind Rebellen auf dem Vormarsch, oder sind da bloß betrunkene Soldaten, die sich ihre Langeweile vertreiben? Nur wer sich an den Ausnahmezustand in Adé noch nicht gewöhnt hat, stellt solche Fragen.

Das persönliche Trauma wird zur Anekdote

Allmählich bricht die Nacht über Adé herein. Vor dem Sternenhimmel ragen die spitzkegeligen Strohhütten wie verkohlte Zuckerhüte empor. Erneut zerreißt eine ferne Gewehrsalve die Stille und provoziert einzelne Eselsschreie, die sich schon bald zu einem hysterischen Konzert hochschaukeln. Am Abendbrottisch ist die Stimmung besser geworden. Jemand hat einen MP3-Player mit Minilautsprechern dabei, Dr. Bienfait versorgt die Runde mit neuem Bier. Geschichten aus dem gefährlichen Helferleben machen die Runde. "Weißt du noch, damals im Kongo? Wenn wir damals nicht evakuiert worden wären, wer weiß ..." Das persönliche Trauma wird zur Anekdote, die man weitergeben kann, immer wieder.

Der stechende Blick des Unterpräfekten signalisiert Entschlossenheit. Seine Lippen sind trotzig nach vorn geschoben, ein sichelartiger Schnurrbart wölbt sich darüber. Um Kopf und Hals hat sich der etwa 35-jährige Mann einen tarnfarbenen Turban geschlagen; aus einem Pistolenhalter ragen zwei blank geputzte Revolverschäfte hervor. Als er mit 20-minütiger Verspätung das Vorzelt seiner Hütte betritt und sich mit seinem Satellitentelefon betont würdevoll auf einem Plastikstuhl niederlässt, hat sich sein Hofstaat bereits im Halbkreis versammelt: ältere Männer mit ledriger Haut und trüben Blicken, tschadische Soldaten in abgewetzten Uniformen, Verwandte, Laufburschen sowie ein halbwüchsiger Übersetzer. Und mittendrin, groß, blond und selbstbewusst, Annegret Bek, 40.

Wäre sie noch in ihrem früheren Leben, als Fotografin, wäre bei einem solchen Anblick der Finger auf dem Auslöser wahrscheinlich kaum zur Ruhe gekommen. Annegret Bek hat die Fotografenkarriere aufgegeben, Anspruch und kommerzielle Zwänge hatten sich nicht so recht in Einklang bringen lassen. Vielleicht, so hoffte sie damals, ließen sich andere Dinge leichter zusammenbringen: Sprachenstudium, Abenteuerlust und der Wunsch, etwas Sinnvolles mit dem Leben anzufangen. So kam sie zu Ärzte ohne Grenzen, machte eine Krankenpflegerausbildung und ging in die humanitäre Nothilfe - in Angola, im Tschad, im Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik. Und nun wieder Tschad.

Während der Übersetzer ihr gezuckerten Tee, Hirsebrei und Ziegengulasch reicht, richtet Annegret Bek das Wort an den Unterpräfekten. Bedankt sich auf Französisch für seine Gastfreundschaft, erkundigt sich nach den Söhnen Ali und Andi und beginnt, über alltägliche Probleme wie die Wasserversorgung der Bevölkerung zu sprechen.

Er ist das Recht in einem rechtsfreien Mikrokosmos

Der Unterpräfekt hört den Ausführungen seines Übersetzers scheinbar unbeteiligt zu, nickt hier und da. Derweil tauchen seine Finger in den Hirsebrei und formen kleine Bällchen, die er sich ganz langsam in den Mund schiebt.

Der Unterpräfekt ist ein mächtiger Mann in Adé, und sein Habitus verrät, dass er so auch behandelt werden möchte. Als Abgesandter der Regierung im fernen N'Djamena ist er für die Sicherheit in dem umkämpften Grenzdorf verantwortlich. Er lässt sich von der Armee auf dem Laufenden halten, berät sich mit den Clanchefs und ist Ansprechpartner für die letzten beiden in Adé verbliebenen Hilfsorganisationen. Er ist das Recht in einem rechtsfreien Mikrokosmos, mit ihm sollte man sich gutstellen.

Normalerweise liebt Annegret Bek Begegnungen wie diese. Verhandlungen, bei denen es nicht um Geld geht, sondern um Menschen. Situationen, die sie nicht kennt, aber dennoch richtig einschätzen muss. Doch heute ist es anders. Denn am Vortag hatte sie den Unterpräfekten der Klinik verwiesen, weil er sich weigerte, seine Waffen abzulegen. Für die Ärzte ohne Grenzen ist das ein nicht hinnehmbarer Regelverstoß. Für den mächtigsten Mann Adés eine öffentliche Demütigung, beigebracht obendrein von einer Frau. Jetzt ist die Stimmung vergiftet.

Als der Unterpräfekt zu reden beginnt, kostet es ihn sichtlich Mühe, die diplomatische Etikette zu wahren. In seinen Augen funkelt Wut. Irgendwann kann er seinen Ärger nicht mehr verhehlen. Immer wieder schnellt sein ausgestreckter Zeigefinger in Richtung der vor ihm sitzenden Frau, während er sie mit arabischen Wortsalven eindeckt. Der servile Übersetzer formt daraus klare Botschaften in radebrechendem Französisch: dass der Herr Unterpräfekt sie jederzeit hinauswerfen könne, dass sie als Frau keine ernstzunehmende Gesprächspartnerin sei und dass unter ihrem Vorgänger ohnehin alles besser gewesen sei. Als das Satellitentelefon des Unterpräfekten klingelt, gibt dieser das Zeichen zum Aufbruch. Die Unterredung ist beendet.

"Was mach ich hier?"

Auf dem Weg zurück in die Klinik verdaut Bek schweigend die Lektion in Sachen Wüstendiplomatie. Im Alltag gibt es immer wieder "Tage, an denen ich mich frage, was zum Teufel ich hier eigentlich tue". Sonntage ohne Freunde, ohne Familie, ohne Abwechslung, eingesperrt hinter hohen Mauern, zurückgezogen in einer fensterlosen Lehmhütte, verkrochen hinter einem Buch. Oder eben vorgeführt von einer dubiosen Autorität.

Unter dem großen Baum in der Dorfmitte kreuzt eine Gruppe bunt gekleideter Frauen mit Kindern ihren Weg. Ein Baby auf dem einen Arm, einen Zweig als Gerte in der anderen, reiten sie wie zu biblischen Zeiten auf Eseln durch die karge Dornenlandschaft. Unter ihren leuchtenden Tüchern lächeln die Frauen schüchtern. Annegret Beks Gesichtszüge hellen sich auf. Sie begrüßt die Frauen, beugt sich vor, um Kinderhändchen zu schütteln oder über staubige, rotzverkrustete Wangen zu streichen. Die Kleinen lachen. "Man muss sich nicht fragen, was man hier macht", sagt sie wenig später. "Man sieht genau, was man macht, man kann das Ergebnis direkt angucken, wann immer man vor die Tür geht. Das ist unglaublich befriedigend."

Dr. Bienfait beugt sich über den halbwüchsigen Soldaten und untersucht die verwundete Hand. Fliegen umschwirren den blutigen Mittelfinger, der sich im obersten Glied zu bloßem Knochen verjüngt hat. Obwohl die Fenster geöffnet sind, steht die Hitze in dem spartanisch ausgestatteten Behandlungszimmer, der Generator rattert monoton. Der Arzt schiebt den Ärmel des zerschlissenen Camouflage-T-Shirts hoch, um dem versteinert blickenden Teenager eine Morphiumspritze zu verabreichen. "Er und seine Kameraden haben gestern Abend mit Sprengstoff herumgespielt. Wahrscheinlich betrunken. Heute Morgen kam er zu uns, weil er die Schmerzen nicht mehr aushielt."

"Das ist hart, nicht für sie da sein zu können, ich habe Angst um sie"

Bienfait, 40, sagt das so beiläufig wie einer, der im Krieg zu Hause ist. In seiner Heimatstadt Goma, 2000 Kilometer entfernt, wo er mit Frau und fünf Kindern lebt, hat Bienfait bereits Krisen erlebt, die für zwei reichen: Er war 1994 dabei, als über eine Million ruandische Bürgerkriegsflüchtlinge seine Stadt überfluteten und die Cholera mitbrachten. Tausende starben. Er hat sich in seinem Haus verschanzt, als ruandische Regierungstruppen 1998 die Stadt einnahmen und Hunderte Unschuldiger abschlachteten. Er musste 2002 fluchtartig die Stadt verlassen, als ein Vulkan große Teile der Stadt unter Lava begrub.

Nur Ende Oktober vergangenen Jahres, als Tutsi-Rebellen in die Stadt einmarschierten, konnte er seine Familie nicht schützen, weil er hier in Adé sein musste. "Das ist hart, nicht für sie da sein zu können, ich habe Angst um sie", sagt er. Aber auf den Dienst bei Ärzte ohne Grenzen kann er nicht verzichten, er ist nach kongolesischen Maßstäben gut bezahlt.

Der Doktor legt vorsichtig eine Mullbinde um die zerfetzte Hand des Soldaten. Offensichtlich hat das Morphium seine Wirkung in dem jungen Körper voll entfaltet, denn der Junge grinst weggetreten. Soldaten sind im Krankenhaus von Adé ein nicht sonderlich willkommener Anblick. Da sie im Verdacht stehen, für viele Vergewaltigungen verantwortlich zu sein, hat Ärzte ohne Grenzen ihnen ein separates Behandlungszelt abseits des Krankenhauses errichtet. So wird vermieden, dass die Frauen - aus Angst, ihren Peinigern zu begegnen - der Sprechstunde fernbleiben. Denn besonders jetzt in der Regenzeit, da Wasser die sonst trockenen Flussbetten füllt und Truppenbewegungen für alle Seiten erschwert, haben die bis zu 5000 Soldaten viel Zeit. Zeit, die sie nicht immer zum Wohle der Bevölkerung nutzen.

Ob das nicht ein merkwürdiges Gefühl sei, Menschen zu behandeln, die für so viel Leid verantwortlich sind? Bienfait schüttelt den Kopf. "Wir sind Ärzte. Wir behandeln alle Menschen, auch unsere Feinde. Selbst wenn du mich schlägst und danach krank wirst, sage ich nicht: Du bist mein Feind, dich behandele ich nicht. Das ist genau, was gerade in einem unserer Projekte weiter im Süden, in Kerfi, passiert ist. Banditen hatten dort unser Lager überfallen und unsere Mitarbeiter geschlagen. Kurze Zeit später kamen sie wieder, weil sie auf der Flucht von Soldaten angeschossen wurden. Wir haben sie behandelt. Wir sind Ärzte."

Obwohl die Sonne nicht scheint, blendet das Licht. Annegret Bek zieht ihre Brauen zusammen und hält die Hand schützend über die Augen. Zwischen den kargen Hügeln, die sich am Horizont nur schwach vom Himmel abheben, zeichnet sich ein kleiner Punkt ab. Das Crescendo eines Propellermotors mischt sich unter das Geschrei der Kinder, die die blonde Frau feixend verfolgen. Allmählich ist die weiße Cessna mit dem roten Logo der Hilfsorganisation sichtbar.

Während die Propellermaschine kunstgerecht auf der Schotterpiste aufsetzt, nähert sich vom Dorf ein Mofafahrer. "Der Stellvertreter des Unterpräfekten", sagt Bek, als der junge Mann mit der goldenen Pilotenbrille am Rande der Piste anhält. Er soll kürzlich einen Lastwagen mit Hilfslieferungen überfallen und geplündert haben. Nachweisen lässt sich ihm nichts, aber der Argwohn bleibt.

Bei MG-Feuer Feierabendbier trinken

Aus dem Bauch des Flugzeugs werden große Styroporboxen, Bierkästen sowie allerlei Aluminiumkisten in den Kofferraum des Geländewagens geladen - lang erwartete Medikamente oder Ersatzteile, private Post und in unregelmäßigen Abständen auch die Löhne für die Mitarbeiter. Unter den Blicken des stellvertretenden Unterpräfekten nimmt Bek auf dem Beifahrersitz Platz und streicht sich eine Locke aus der Stirn. Hinter ihr, im Seitenfenster, hängt eine zerrissene weiße Fahne mit dem Bild eines durchgestrichenen Sturmgewehrs. Eine Staubwolke hinter sich herziehend, nimmt der Geländewagen Kurs auf das Lager. Von ferne wirkt es seltsam deplatziert, eine Trutzburg zwischen Lehmhütten, deren Konturen sich in der flirrenden Hitze verlieren.

Wenn die Regenzeit beendet ist, werden die Flusstäler austrocknen, und der Weg wird frei sein für die vielen Kämpfer der Region. Rebellenjeeps mit abgesägten Frontscheiben werden durch den Wüstensand jagen und ihren Krieg fortsetzen. Ausgezehrte, traumatisierte Flüchtlinge werden herbeiströmen und in den Lagern auf eine bessere Zukunft warten. Und Annegret Bek und ihre Kollegen werden sie weiterhin mit dem Überlebensnotwendigen versorgen. Werden sich anschließend an den Abendbrottisch setzen, um bei Eselsgeschrei und MG-Feuer ihr Feierabendbier zu trinken. Wenn nicht Schlimmeres passiert.

UND HEUTE?

Nach einem weiteren Überfall im Frühjahr wurden die Teams in Adé sowie im etwa 40 Kilometer entfernten Goz Beida erneut evakuiert. Der Bau der chirurgischen Station, für die bereits das Mauerwerk stand, wurde als Konsequenz des Überfalls vorübergehend unterbrochen. Zukünftig sollen unbewaf fnete Wachposten in der Nähe des Lagers vor Angriffen warnen können.

Annegret Bek ist inzwischen wieder in Deutschland. Der Unterpräfekt soll nach Angaben von Dr. Bienfait von den tschadischen Behörden inhaftiert worden sein. Angeblich hatte er mit seinem Bruder telefoniert, der aufseiten tschadischer Rebellen kämpft. Auch sein Stellvertreter soll wegen nicht näher genannter Eigentumsdelikte im Gefängnis sitzen.

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