Das hoff der Schriftsteller Bernhard Schlink
Dirk von Nayhauß
07.10.2010

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Als mein Sohn 16 wurde, zog er zu mir. Zunächst war's nicht immer einfach. Aber was wäre mir ohne ihn entgangen! Zu seinen Fähigkeiten gehört, sich an kleinen Dingen zu freuen. Wir haben beispielsweise zusammen gefrühstückt, und die Brötchen waren frisch, Käse und Marmelade schmeckten, und dann konnte er sagen: Wie schön, dass wir so zusammen frühstücken! Er hatte völlig recht - ich hatte es mir einfach nicht bewusst gemacht.

An welchen Gott glauben Sie?

Ich denke, Gott ist eine Erfindung der Menschen - vielleicht die größte. Darum ist er nicht etwa nicht wichtig; auch Kunst und Wissenschaft sind Leistungen der Menschen. Ich gehe gerne zum Gottesdienst und habe manchmal auch gepredigt, wenn mich ein befreundeter Pfarrer eingeladen hat. Die Kirche ist ein Teil meiner Lebenswelt, die mir als Kind früh liebgeworden und immer geblieben ist. Ich mag die Liturgie, Lieder und kluge Predigten, die Räume, die Gelegenheit zur Meditation. Zugleich hatte ich schon früh Schwierigkeiten mit den Inhalten. Ich teile die Sehnsucht nach Vergebung und verstehe die Vorstellung eines vergebenden Gottes. Aber warum lässt Gott, wenn er uns vergeben will, seinen Sohn ans Kreuz schlagen? Warum vergibt er uns nicht einfach? Letztlich glaube ich eher an die Kirche - ich erlebe sie als eine Gemeinschaft von Menschen, die guten Willens sind. Das ist viel, und es langt, um Mitglied der evangelischen Kirche zu bleiben.

Hat das Leben einen Sinn?

Den, den wir ihm geben. Dazu gehört die Erfüllung selbstverständlicher und selbst gewählter Pflichten. Schon für uns Kinder wahrnehmbar und prägend hat sich meine Mutter immer bemüht, dazu beizutragen, dass die Welt, in der sie lebte, besser wurde. Für mich beginnt das im Beruf beim Unterricht für die Studenten. Es schließt ein, Aufgaben, die anstehen, zu übernehmen. Sich aus übernommenen Aufgaben nicht rauszustehlen, wenn es unangenehm wird. Sich um Freunde und Bekannte und nicht nur um sie zu kümmern, wenn man helfen kann. Manchmal geht's mit dem mütterlichen Pflichtenethos freilich zu weit; bis heute habe ich das Gefühl, ich müsse mir das Schreiben, weil es mir Freude macht, erst verdienen.

Muss man den Tod fürchten?

Warum? Weil danach die Hölle kommt? Ich glaube, nach dem Tod kommt nichts mehr, und das ist auch recht so. Ein Leben reicht. Und das Sterben - meine Tante, die ich sehr geliebt habe, hat sich, als sie alt war, das Leben genommen. Sie hatte das Gefühl: Jetzt ist es genug. Das Leben zu Hause war ihr beschwerlich geworden und sie hatte sich ein Altersheim ausgeguckt, ein gutes, in dem sie ihre eigene Wohnung und ihre eigenen Möbel gehabt hätte. Aber dann merkte sie, dass sie dort nicht wirklich hinziehen wollte. Sie wollte diesen nächsten Lebensabschnitt nicht mehr. Sie lebte in der Schweiz, hat ihr Leben mit Hilfe einer Organisation und im Beisein ihres Bruders und ihrer Freundin beendet. Ich fand das beeindruckend und auch befreiend: Es hat aus der abstrakten Möglichkeit eine konkrete gemacht.

Welchen Traum möchten Sie sich unbedingt noch erfüllen?

Ich möchte von British Columbia die Pazifikküste bis nach Baja California runterfahren, mit dem Auto, und ich will mir dafür so viel Zeit nehmen, so oft und so lange hier und da bleiben und schreiben, wie ich mag. Monate am Meer, mal in Bewegung und mal in Ruhe. Und vielleicht lerne ich unterwegs Spanisch und fahre weiter bis Feuerland.

Wie werden Sie mit Schuldgefühlen fertig?

Wenn der, dem gegenüber ich schuldig geworden bin, noch lebt, gehe ich hin oder schreibe oder rufe an und bitte um Verzeihung. Aber es gibt auch die Schuld gegenüber denen, die nicht mehr leben und die mir auch nicht mehr vergeben können. Die Schuld, die mir niemand mehr vergeben kann. Mit der muss ich leben. Bei meinem Vater tut mir leid, dass ich mich nicht hartnäckiger um ihn bemüht habe. Wir hatten keine wirkliche Beziehung. Ich habe zwar, als ich schon älter war, ein paar Anläufe gemacht, aber zu rasch aufgegeben. Und bei meiner alten Mutter war ich so oft damit beschäftigt, mit ihrem Schwierigsein und mit meinem Genervtsein zurechtzukommen, dass ich mich gar nicht mehr auf sie einlassen, mich nicht mehr an ihr und mit ihr freuen konnte. Ich hoffe, dass das Wissen um die eigene Schuld mich großzügiger macht. Es gibt den schönen Spruch: Sei freundlich, denn jeder, den du triffst, kämpft einen großen Kampf.

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