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Der Kirchgang beginnt mit einer kleinen Enttäuschung: Das Portal von "Jubilate" bleibt an diesem Sonntag geschlossen – aus Spargründen. Stattdessen findet der Gottesdienst im gegenüber liegenden Gemeindezentrum statt.
Dabei hatte ich mich so darauf gefreut, 40 Jahre nach meiner Konfirmation wieder einmal in diesem Kirchenraum zu sitzen, den ich nur noch verschwommen vor mir sehe: dunkle Holzbänke in einem Halbkreis auf einen schlichten Altar ausgerichtet, farbige Kirchenfenster und vor allem viel sichtbarer Beton.
Baujahr Mitte der 60er Jahre, sehen die Glockentürme von Jubilate und seines benachbarten katholischen Pendants tatsächlich auch heute noch so aus, wie mein Vater sie immer genannt hat: "Raketenabschussrampen." Zeugen einer Fortschrittsarchitektur. Der Reutlinger Stadtteil Orschel-Hagen war aber auch ein sozialdemokratisches Experiment: Mietshäuser und Bungalows wild gemischt, Unterschicht trifft Mittelstand.
Philipp Maußhardt
Die Gemeindesaal ist erstaunlich gut besetzt: Fuffzig Leit, wie sie hier schwäbeln, alle Altersklassen vertreten. Almut, die junge Klavierspielerin, wird von Pfarrerin Silke Bartel vorgestellt und spielt noch ein bisschen Chopin. Die langen Haare ein wenig zerzaust, in Fransenjeans und rotem Kapuzenpulli. Kaum älter als ich damals.
Und genau da, wo jetzt das Klavier steht, einen Stock tiefer im Keller, da standen die Verstärker, auf denen unsere Teenie-Band laut und jede Woche probte. Meine erste Elektro-Gitarre kaufte ich mir von meinem Konfirmationsgeld.
Es ist der letzte Sonntag im November, erster Advent. Wartezeit, Ankunftszeit. An Pfarrerin Bartels Ohren baumeln zwei Ohrringe, die aussehen wie bunte Weihnachtsplätzchen. Lustig. Überhaupt scheint Bartel nicht zur Fraktion "Was-gibt’s-hier-zu-Jammern" zu gehören. Ihre Gemeinde spricht sie mit einem fröhlichen "Meine Lieben" an.
Der Brief des Johannes an die satten, selbstgefälligen Einwohner von Laodizea (Offenbarung 3, 14) ist die Grundlage ihrer Predigt. Passt bestens zur Adventszeit, findet sie, weil es darum geht, "reinen Tisch zu machen" solange noch Zeit dafür ist. Aufräumen, außen wie innen.
Nach dem Gottesdienst schließt Silke Bartel mir noch die Kirche auf. Gott sei Dank. Meine Erinnerungen muss ich nicht neu sortieren.