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"Ich kenne keine Flutgewinnler"
Wie lebt es sich im Ahrtal zwei Jahre nach der großen Flut? Rheindorf, Pastor und chrismon-Autor, erzählt von der "kollektiven Gewalterfahrung" und einem Leben jenseits der Normalität.
Tim Wegner
20.07.2023

„Und?“, fragte die Tochter, als alle zusammensaßen, am zweiten Jahrestag der Flut: „Was würdet Ihr machen, wenn das Hochwasser jetzt kommen würde?“ „Nichts“, habe er geantwortet, „bin zu erschöpft.“

Daraufhin habe sich eine Diskussion in der Familienrunde entwickelt und am Ende, so Vater Thomas Rheindorf, war klar: „Wenn jetzt die Flut noch mal kommt, dann würde ich vermutlich sofort den Modus wechseln: von der Erschöpfung in die Aktivität, Menschen retten, Schlamm wegschippen, anpacken.“

Zwei Jahre ist es her, da zerstörte die Flut im Ahrtal das Haus von Thomas Rheindorf, Pastor in Bad Neuenahr. Wir beide kennen uns gut und so fragte ich ihn, ob er nicht über sein Leben nach und mit der Katastrophe schreiben wollte. Wollte er. Gut ein Jahr lang erschien seine Kolumne „Hochwasser“ und erfreute sich großer Beliebtheit bei unseren Leser*innen. Dann konnte und wollte er nicht mehr weiterschreiben. Eine große Erschöpfung hatte ihn gepackt, mental und körperlich.

Hochwasser: Im Archiv sind alle Folgen nachzulesen - einfach hier klicken
Und nun der zweite Jahrestag. Wieder telefonieren wir.

Am 14. Juli saßen sie mit der Familie zusammen – in ihrem alten Haus.  Über ein Jahr lang hatten sie in einer Notunterkunft - „einem blechgewordener Alptraum" - durchgehalten. Vor ein paar Wochen konnten sie endlich wieder zurück ins alte Haus. Eine unfassbare Erleichterung, auch wenn es draußen vor der Haustür immer noch fast so aussieht wie vor einem Jahr. Das benachbarte Hotel liegt unberührt und dient Jugendlichen gelegentlich als Lostplace, in dem sie herumturnen, bis die Polizei erscheint. Rechts und links des Flusses laufen Tag und Nacht Dieselaggregate, um Abwasser über die Ahr in den funktionierenden Teil der Kanalisation zu pumpen. Neu und kaputt liegen überall im Tal ganz nah beieinander.

"An gleicher Stelle, in gleicher Art und Güte"

So schön das Haus jetzt auch ist, der Kampf mit den Versicherungen sitzt ihm in den Knochen. Denn dort gilt der Grundsatz: Ersetzt wird nur an „gleicher Stelle, in gleicher Art und Güte“. Für die Rheindorfs hieß dies: Es muss die beschädigte Eingangstreppe wieder hergestellt werden, obwohl das Paar bald im Rentenalter ist und eine seniorengerechte Rampe vernünftiger wäre. Keine Chance bei den Versicherungen. Sie zahlen auch nicht, wenn der Grundriss verändert wird, oder wenn die Versicherten ihr Haus jetzt klimagerecht dämmen wollen würden: Gleiche Art, gleiche Güte, gleiche Stelle… lebensfern und sinnfrei, findet Thomas Rheindorf.

Viele im Tal hätten sich mit den Versicherungen auf einen Ausgleich geeinigt und dann aus eigener Tasche die Änderungen vom Urzustand selbst bezahlt. Ihn ärgert, wenn in den Medien über „Luxus-Sanierung“ erzählt werde: „Schwarze Schafe gibt es immer“, findet er. „Die zur Mittelschicht zählende Mehrheit verliert Altersvorsorge, Notgroschen und Lebensstandard. Ich kenne keine Flutgewinnler.“

Am Ende, das weiß Familie Rheindorf, sei sie bei allem Unglück noch gut davongekommen, andere habe es schlimmer erwischt. Sie hätten niemanden verloren und auch ihr Haus retten und wieder beziehen können.

Viel Lebensmut und Optimismus ist verloren gegangen. Bei vielen im Tal wohl für immer. Und so kann Thomas Rheindorf eines nicht mehr hören: die in Politikerreden mantramäßig  geforderte „Rückkehr zur Normalität“: „Diese Flut war eine kollektive Gewalterfahrung für uns im Tal“, ein Zurück ins Davor gebe es nicht.

Thomas Rheindorf ist Pastor, doch immer noch ist seine Hauptkirche geschlossen. Auch hier kämpft er mit Bürokratie und Verwaltungswahnsinn. "Eine Gemeinde ohne Kirche ist entseelt, und gegenüber den Institutionen sind wir schier ohnmächtig“, ärgert er sich. Dafür habe die Gemeinde jetzt zwei Second-Hand-Läden eröffnet, und daran angegliedert ein Begegnungscafé. Das sei für ihn schön und wichtig gewesen, weil man gemeinsam für die Menschen da sein konnte.

Am Ende unseres Gespräches kommt Versöhnlichkeit auf. Am 14. Juli 2023, als Töchter, Enkel und Großeltern im Haus zusammensaßen, da gab den leichten Zauber eines Wiederanfangs. Nach langer, langer Zeit hat Thomas Rheindorf  ein schon fast verlorenes Gefühl wieder verspürt: Lebenslust!

Seh- und Hörtipp chrismon-live:
Wie können wir preiswert und gemeinschaftlich wohnen?
Hier geht es zur Aufzeichnung meines Web-Talks mit Jennyfer Wolf vom Wohnprojekt Allmende in Freiburg und Jörn Luft vom Netzwerk Immovielien e.V. vom 17. August 2023

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Kolumne

Dorothea Heintze

Wohnen wollen wir alle. Bitte bezahlbar. Mit Familie, allein oder in größerer Gemeinschaft. Doch wo gibt es gute Beispiele, herausragende Architekturen, eine zukunftsorientierte Planung? Was muss sich baupolitisch ändern? Wohnlage-Autorin Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß: Das eigene Wohnglück zu finden, ist gar nicht so einfach. Alle zwei Wochen.