Am 21. Oktober 1930 ereignete sich um halb acht Uhr morgens im Steinkohlenbergwerk Anna in Alsdorf bei Aachen eine Schlagwetterexplosion. Bei diesem Unglück starben 279 Menschen. Das Unglück fand internationale Beachtung, eine Welle von Solidaritätsbekundungen, Hilfeleistung und Spenden half den Betroffenen. Fast siebzig Jahre später arbeitete ich als Pastor in diesem Ort. Den aktiven Bergbau gab es längst nicht mehr, die allermeisten Kumpel waren an Atemwegserkrankungen verstorben. Ein paar Witwen waren noch da und Nachfahren. Als ich dort anfing, wusste ich gar nichts von dem Unglück, als ich zwei Jahre später ging, fast alles. Die Katastrophe war präsent, nicht im Smalltalk auf der Straße, aber bei Jubiläen, Trauerfeiern und Familienfesten.
Szenenwechsel: Ich stehe dieser Tage in Hannover am Bahnhof und warte auf den ICE Richtung Süden. Dann die Ansage, dass er sich verspäte. Habe ich die Augen verdreht? Mich treffen die Blicke eines Mannes, gepflegt, elegant, Typ Weltbürger. Weil er mich ansieht, sage ich: „Pünktlich wäre schön gewesen.“ „Hauptsache, er kommt überhaupt“, erwidert er, eine Spur zu ernst für Bahnsteiggeplauder. „Davon gehe ich jetzt doch einfach mal aus.“ Er sieht mir direkt in die Augen: „Das hoffe ich immer. Ich bin aus Eschede.“ Sofort sehe ich das Bild des weißen Zuges mit dem roten Strich auf der Seite, der daliegt wie eine hingeworfene Ziehharmonika. Es war der 3. Juni 1998, als der ICE-Unfall von Eschede passierte. Bei dem Ereignis starben 101 Menschen, viele waren scherverletzt. Und er, der Mann aus Eschede, war fast ein Vierteljahrhundert danach nicht damit fertig.
Ein Jahrestag wie ein Jahreswechsel
Bald ist es ein Jahr her, dass das Hochwasser durchs Ahrtal kam. Jahrestag, das ist der hohe Festtag für Eventplaner, egal ob aus Film, Funk und Fernsehen, aus Kultur und Kirchen. Gedenken wird geplant und beworben, Dankfeste, Konzerte, eine Menschenkette längs des Flusses als La-Ola-Welle der Betroffenheit ist organisiert. Glocken sollen just in time läuten. Manche baden im Aktivitätsmodus, andere fliehen, wieder andere wollen sich in stoischer Ignoranz üben.
Es kommt mir in diesen Tagen ein bisschen vor wie alle Jahre wieder im Advent: Und was macht ihr dieses Jahr so an Weihnachten und Silvester? Zu den Kindern oder wir feiern für uns oder hierhin oder dorthin wegen der Atmosphäre. Ich bin sicher, dass die Ansprachen der Honoratioren schon geschrieben sind, hier und da wagt sich schon jemand hervor mit einem Statement.
Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz empfiehlt Besuche an der Ahr wegen des Wichtig-für-die-Region-Tourismus. Und stellt fest, dass über wirksame Katastrophenschutzkonzepte unter Umständen vielleicht gegebenenfalls doch nochmals ganz intensiv und irgendwie zeitnah nachzudenken sei. Sie wird am Jahrestag wohl rhetorisch nachlegen, andere werden einstimmen, das Erreichte loben, das nicht Erreichte beklagen, den Helfern und Einsatzkräften wieder danken und die Betroffenen wieder ermutigen. Und über dem Tal steht wie mit magischem Stift geschrieben: SolidAHRität. Dann fängt die Zeit danach an, so nüchtern wie alljährlich die ersten Wochen im Januar: etwas glanzlos, etwas trüb, etwas mit Jahresrechnungen beschwert. Und doch mit Planungen, Ausblicken und Vorausahnungen.
Meine Sippe ist gerade angewachsen, es gibt ein Baby. Vor dem Hochwasser war an den Kleinen noch nicht einmal zu denken, jetzt ist er da. Noch weiß er nichts von alledem, was geschah. Doch er wird es kennenlernen. Es wird auch Teil seiner Lebensgeschichte werden. Weil es Teil der Lebensgeschichte aller geworden ist, die hier waren, als das Wasser kam. Das Hochwasser wird für lange Zeit im Ahrtal bleiben. Die Erinnerung wird verblassen, doch der dunkle Wasserfleck verschwindet nicht.
Dieses Jahr ist der Fluss kaum mehr als ein Rinnsal
Und der Fluss, von dem alles ausging? Es hat sich dieses Jahr auf trockene Weise dazu entschieden, den Klimawandel andersherum zu verdeutlichen: Er ist kaum mehr als ein Rinnsal mit Tendenz zum Wadi. Die Trockenheit könnte sich hier in kommender Zeit noch zu einem größeren Problem entwickeln. Doch vorerst und für diesen Augenblicke bietet sie mir die Chance, da anzusetzen, wo ich vor einem Jahr unterbrochen wurde. Ich möchte eine neue Flasche gut gekühlten Blanc de noir von der Ahr aufziehen und unbehelligt auf das Leben anstoßen. Mit denen, die für mich da sind.
PS:
Dies ist die vorläufig letzte Folge vom Hochwasser-Blog. Ich konnte viele Geschichten aus dem Ahrtal erzählen, nun brauche ich etwas Zeit und Ruhe zur Neuorientierung. Als Pastor bleibe ich dem Ahrtal erhalten. Wenn Sie mal dort sind, schauen Sie gerne vorbei. Wie Sie mich erreichen, finden Sie auf der Webseite meiner Gemeinde.
Vielen Dank für ein Jahr lang
Vielen Dank für ein Jahr lang hautnahe und unter die Haut gehende Berichterstattung über große und kleine Ereignisse, Rückschläge, aber auch Lichtblicke rund um die Flutkatastrophe. Ich habe die Einträge immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge gelesen – selten etwas gelesen, was so gut und nachfühlbar Situationen und Stimmungen einfängt, wie die einzelnen Blog-Beiträge. Immer ehrlich, immer authentisch, immer auch kritisch mit einem guten Schuss Ironie und Sarkasmus, der zum Nachdenken und zur kritischen Auseinandersetzung eingeladen hat. Schade, dass es nun wohl zu Ende ist – ich habe dem nächsten Eintrag immer mit sehr viel gespannter Vorfreude entgegengesehen. Die Geschichten haben geholfen, mit den individuellen Wasserflecken umzugehen. Mögen diese dunklen Wasserflecken bei uns allen mit der Zeit ein bisschen heller werden.