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Marco bekam zu seinem 30. Geburtstag Response und Feedback in einem Ausmaß, das sogar einen jung-dynamischen Marketingprofi wie ihn überraschte. Selbst wenn man die Mails und Karten strich, die der Memofunktion in den elektronischen Kalendern seiner Geschäftspartner und Dienstleister zu verdanken und deutlich lesbar unpersönlich gehalten waren, blieb eine Menge an beachtenswerten Aufmerksamkeiten aus Marcos Freundeskreis und Familie übrig. Diese Fülle löste bei dem alerten Typen ein Gefühl aus, das in anderen Zeiten als "Rührung" kategorisiert worden wäre. "It knocks me out", nannte es Marco, "das haut mich um! "
Glück wünschten Marco alle - außer seinem Bruder Winni
In den meisten Wunschadressen war von Gesundheit und Lebensfreude die Rede, in manchen vom Wohlergehen. Auch die übliche Formel: "Wir wünschen dir, dass sich deine eigenen Wünsche erfüllen", hatten einige Gratulanten verwendet. Glück wünschten Marco alle - außer seinem Bruder Winni. Und das fiel dem Geburtstagskind tatsächlich auf. "Er wünscht mir stattdessen Zufriedenheit. Das ist typisch für ihn." Richtig zu freuen schien es Marco nicht.
Im Zusammenhang mit Marco an Zufriedenheit zu denken, ist tatsächlich ungewöhnlich. Er gehört zu den Leuten, denen man höchst anerkennend nachsagt: "Der ist nie zufrieden. Einfach nur ehrgeizig. Ein Perfektionist." Kurzum: Marco ist anstrengend. Er stresst. Er verdirbt die Preise. Wir kennen diese Spezies: Michael Schumacher gehört zu ihr und Oliver Kahn mit seiner dieser Tage so oft zitierten Maxime: "Weiter! Immer weiter! "
Marco war der beste Abiturient seines Jahrgangs, machte einen Topabschluss als Betriebswirt, bekam in jungen Jahren einen Spitzenjob bei einem Pharmaunternehmen und entwickelte innerhalb kürzester Zeit die Megaerfolgsstrategie für ein neues Hustenbonbon. Ein Karrierist?
Die Barke nach Avalon liegt am Ufer bereit. Ob er sie tatsächlich braucht?
"Nein, das ist falsch", erklärte mir Winni gestern, als ich ihn auf den Geburstagswunsch für seinen Bruder ansprach. "Marco misst sich nicht an anderen. Er will nicht besser sein als sie. Er ist kein Ellenbogentyp. Er sucht den Gral." Winni hat Philosophie, Germanistik, Romanistik, Theologie und Geschichte studiert und arbeitet seit zehn Jahren als Nachtschichtler im Taxigewerbe. "Wir hatten nie eine Rivalität. Ich bin ja auch einige Jährchen älter als er."
"Weißt du", lächelte Winni, "ich habe mir das lange überlegt mit dem Wunsch der Zufriedenheit. Es ist, wie wenn man einem Rennfahrer wünscht, die Freuden der Langsamkeit zu genießen." Meint er, dass der Bruder leidet unter der eigenen Rastlosigkeit? "Nein. Definitiv: Er leidet nicht! Marco findet das ganz normal, dieses Streben nach Vollkommenheit. Und ich bewundere ihn dafür. Ohne Leute wie ihn wäre Fortschritt nicht existent."
Warum dann dieser Wunsch, Winni? "Wie viel Zeit hast du?", fragte er zurück, "drei Stunden?" Er massierte seine Nase und schwieg einen Augenblick. "Er braucht das. Ich verkörpere für ihn das Anderssein. Er kämpft gegen die Sterblichkeit, gegen die Begrenztheit der Zeit. Er sucht das Ewige, das Absolute. Das ist mir wesensfremd und deshalb bin ich es ihm. Verstehst du?" Nicht ganz, musste ich zugeben.
"Kennst du die Geschichte von König Artus?" Natürlich kenne ich die. "Dann weißt du, wie Artus tödlich verwundet auf die Barke nach Avalon gebracht wird. Das ganze Leben bis dahin war Kampf. Am Ende ist es Mordred, der eigene Sohn, der ihn verwundet und besiegt. Wenn ich Marco Zufriedenheit wünsche, zimmere ich diese Barke für ihn. Vielleicht benutzt er sie nie. Vielleicht liegt sie lange am Ufer, vergessen und halb verrottet. Doch wenn er sie einmal brauchen wird, dann ist sie da. Dann kann er sich an meinen Wunsch erinnern, und er wird verstehen, wie ich ihn gemeint habe. Er kann dankbar sein und ausruhen. Das ist Zufriedenheit. Jemand muss sie ihm wünschen. Dann existiert sie - wie ein Medikament für den Notfall im Apothekerschrank." Typisch Winni, hat Marco gesagt.