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Der ICE nach Süden hat gewaltig Verspätung eingefahren. Vor Frankfurt schauen die Passagiere in immer kürzeren Abständen nervös auf die Uhr. Werden die Züge nach Basel, München und Stuttgart warten? Mit sonorer Stimme meldet sich der Zugchef über die Lautsprecheranlage: "Wir haben derzeit eine Verspätung von 22 Minuten. Die Anschlusszüge werden nicht mehr erreicht. Wir werden Sie in Kürze über Ihre weiteren Reisemöglichkeiten informieren. Wir entschuldigen uns für die entstehenden Unannehmlichkeiten."
",Sich entschuldigen'; heißt: sich selbst freisprechen."
"Na wenigstens entschuldigen sie sich", murmelt mein Gegenüber und senkt die Zeitung. "Aber genau das ist doch die größte Frechheit", faucht mein Nachbar zur Linken, "die können uns höchstens um Entschuldigung bitten! ,Sich entschuldigen'; heißt: sich selbst freisprechen."
Der Mittfünfziger im Tweedsakko entpuppt sich als Germanist und lässt uns wissen: "Entschuldigen Sie bitte! Das wäre die richtige Formel. So hat es der Zugchef auch gemeint. Aber das sind Feinheiten, die dem Verschludern unserer alltäglichen Sprache nicht standhalten."
Ich glaube allerdings, dass es sich nicht allein um sprachliche Schlamperei handelt, wenn sich die Menschen selbst entschuldigen. Ich vermute, dass viele aus lauter Angst, von den anderen nicht entschuldigt zu werden, zur vorauseilenden Selbsthilfe greifen.
Eine Physiotherapeutin kommt zehn Minuten zu spät zu einem Termin. Vor der Praxis wartet die Patientin im strömenden Regen. Noch ein wenig aus der Puste keucht ihr die Verspätete entgegen: "Na, Sie haben ja noch nicht so lange gewartet!" Ein Kellner bugsiert ein Tablett mit Getränken durch die überfüllte Wirtschaft. Er verliert die Balance, Gläser kippen um, Bier ergießt sich auf Jacken und Blusen. "Das geht raus. Das ist nicht so schlimm", ruft der Ober und stellt die Gefäße wieder aufs Tablett. Auffahrunfall an der Ampel. Der Verursacher steigt aus, besieht sich den Blechschaden und erklärt: "Das ist nicht schlimm, da haben Sie Glück gehabt!" Wenn ich so etwas erlebe, reagiere ich gereizt. "Können Sie nicht aufpassen!", raunze ich den Kerl an. Schnösel, denke ich, arroganter Sack! Zu großmütigem Schulterklopfen fehlt mir jede Lust.
Schnösel, denke ich, arroganter Sack!
Neulich saßen wir in fröhlicher Runde in unserem Stammrestaurant. Die junge Bedienung nahm gewissenhaft unsere Bestellung auf. Und das war's dann für die nächste halbe Stunde. Als die Getränke endlich kamen, waren es die falschen Pils statt Weizenbier, Rotwein statt Schorle, Mineralwasser mit statt ohne Kohlensäure. Beim Servieren des Essens bekleckerte mich die Kellnerin mit Sauce und zum Abschied verrechnete sie sich deftig.
Seltsamerweise blieben wir heiter und freundlich. Jede ihrer Fehlleistungen hatte die junge Frau demütig auf sich genommen: "Entschuldigen Sie bitte, ich habe heute irgendwie einen furchtbaren Tag. Es tut mir so Leid. Wie kann ich das wieder gutmachen: Ihr schönes Sakko. Es ist mir so peinlich. Schicken Sie mir bitte die Rechnung für die Reinigung!"
Natürlich habe ich ihr die Rechnung nicht geschickt. War ja alles halb so schlimm. Fehler sind schließlich menschlich. Dankbar hätte ich ihr eigentlich sein müssen. Indem sie uns um Nachsicht bat, nichts verharmloste, in Sack und Asche ging, gab sie uns die Chance, großzügig zu sein und sie "Ist doch nicht der Rede wert, ich bitte Sie!" freizusprechen von ihrer kleinen Schuld. Und für sie selbst muss es sich ähnlich gut angefühlt haben.
Ist doch nicht der Rede wert, ich bitte Sie!"
Ich jedenfalls fühle mich bedeutend wohler, wenn mir mein Gegenüber nachsichtig begegnet oder gar vergibt, als wenn ich das selbst erledige. Glauben Sie mir, auch der ekligste Nörgler entpuppt sich als großmütig und weise, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gibt. Sie müssen es ihm nur zutrauen und manchmal ein wenig warten, bis sein Zorn verraucht ist.