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"Franz Gurk", denke ich, wenn ich krachend und rauschend husten muss, wenn es in meinen Bronchien rasselt und sich der Schleim langsam löst. "Franz Gurk" - manchmal flüstere ich die beiden Worte auch oder sage sie nach dem Hustenanfall leise vor mich hin, zum Beispiel wenn ich allein im Auto unterwegs bin. Wenn ich unter diesem Erkältungssymptom zu leiden habe, kann es aber auch sein, dass mein steinzeitliches Stammhirn "kleine Oma" kommentiert, während ich das Taschentuch entknülle und vor den Mund drapiere. Normalerweise registriere ich gar nicht, was mein Erinnerungsautomat zu meinem Tun und Lassen beisteuert. Ganz oft muss es in mir oder aus mir "Franz Gurk" geraunt haben, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre.
Franz Gurk" und "kleine Oma"
Als ich vor kurzem im eisernen Griff der Influenza fieberte, drängten sich "Franz Gurk" und "kleine Oma" so häufig an die Oberfläche, dass mein Bewusstsein darüber stolperte. Was geschieht da? Was purzelt da durch dein Gehirn? Befremden sprang mich an. Doch hielt dieser Zustand nicht lange an. Denn fast im selben Augenblick, da ich den merkwürdigen Reflex in meinem Oberstübchen als des Grübelns wert erachtete, entschleierten sich zwei Sequenzen von Bildern, ja, es roch und dampfte und räusperte mich zurück in eine andere Zeit.
Franz Gurk war ein ehrbarer badischer Politiker und lange Jahre Landtagspräsident im Südwesten. Irgendwann in meiner Grundschulzeit besuchte er unsere Schule. Um einen Neubau einzuweihen, eines Jubiläums wegen? Ich weiß nicht mehr, warum. Ich sehe mich ganz in der Nähe des Rednerpultes in unserer neuen Turnhalle stehen. Wir hatten zu Ehren des hohen Gastes ein Lied gesungen. Meine Mitschülerin Gabi mit den süßen Zöpfen - ein Mädel mit roten Bäckchen wie aus der Zwiebackreklame und eine Zicke vor dem Herrn - durfte einen Blumenstrauß überreichen. Dann hub der Präsident Gurk zu reden an. Was er sagte, habe ich entweder schon damals nicht mitbekommen oder längst vergessen. Nur dass er unglaublich heiser war, krächzte, brummte und pfeifend atmete, das drang mir tief ins Gemüt. Schon nach wenigen Sekunden bahnte sich im krampfhaften Zucken seiner Lippen an, im röchelnden Versuch, den Reiz in Schach zu halten, was dann doch passierte: ein gigantischer Hustenanfall, ein Keuch- und Bell-Tsunami, der sich über seine Rede ergoss, den ganzen Mann schüttelte und fast übers Pult riss und sich endlich in einer Wolke von Auswurf auflöste, die auf uns herabregnete.
Schweigend und zutiefst erschrocken sahen alle auf den Mann, bis unsere Klassenlehrerin Erika Fesenmeyer ihm mit einem Tuch zu Hilfe eilte, erst den Präsidenten, dann das Pult mit hastigen Bewegungen zu säubern suchte und auch über unsere Köpfe eher symbolisch - wischte. "Entschuldigung", hauchte Gurk, "Entschuldigung." Filmriss.
Meine "kleine Oma" war meine erste große Liebe
"Kleine Oma" ist fünf Jahre früher geschehen. Meine Urgroßmutter, fast neunzig, sterbenskrank und bettlägerig. Ein Hustenvulkan, den ich nach meiner Erinnerung mehrstündig, still an ihrem Lager sitzend bestaunte. "Sie hat Wasser in der Lunge", wusste meine Tante und reichte ihr eine ganze Rolle Papier, "sie macht es nicht mehr lange." "Kleine Oma", wie ich sie im Kontrast zu ihrer ausladend kräftigen Tochter nannte, der "großen Oma", hat noch mehrere Jahre in ihrem Bett gehustet, bis sie mit 94 Jahren friedlich wegdämmerte.
Die beiden Hustenden stecken tief in meinem Kopf. Monate schlafen sie ganz ruhig im Hinterstübchen. Bis die Saison der Erkältungskrankheiten anbricht und sie meine Hustenanfälle begleiten. Wiedergänger meiner kindlichen Erstbegegnung mit den Sensationen des menschlichen Körpers. Jetzt, da ich mir den Grund dafür bewusst gemacht habe, bin ich gespannt, ob und wie sie wiederkommen oder ob ich wenigstens Franz Gurk, dem ich nur dies eine Mal begegnet bin, in den ewigen Frieden des Vergessenwerdens verabschiedet habe. Meine "kleine Oma", die meine erste große Liebe war, wird mich weiter begleiten. Mich erinnert mehr an sie als nur ihr Husten.