Lena Uphoff
15.11.2010

Da sitze ich nun wieder und versuche, Ihnen zu Weihnachten ein besonders anregendes Häppchen aus meinen Alltagsnotizen aufzutischen. Ich habe jetzt schon zum fünften oder sechsten Mal angesetzt. Der Einstieg, Schreibende wissen es, ist nun mal das Schwerste. Wenn der gelingt, dann erzählt sich die Geschichte selbst. Sie spult ab von einer unsichtbaren Rolle. Sie schnurrt in den PC. Die Finger laufen wie von selbst über die Tastatur. Nur heute ­ heute klappt es einfach nicht.

Mein ganzes Journalistenleben begleitet mich die Angst vor dem leeren Blatt

Nicht dass mir das neu wäre. Mein ganzes Journalistenleben begleitet mich diese Angst vor dem leeren Blatt, das Stochern in meinen Spracharchiven, bis dann das erste Wort, der erste Satz, der entwickelte Gedanke, die Szene auf dem Bildschirm Gestalt annimmt.

Manchmal geht es wie von selbst. Ich komme zur Tür rein, setze mich vor den Computer und alles läuft. Heute geht gar nichts. Früher, in den Zeiten der mechanischen Schreibmaschine, klapperte man los, hielt vom kritischen Selbst gequält inne, rümpfte die Nase, zog die Stirn kraus, riss das fast leere Blatt aus der Maschine, um es schließlich unter dem begleitenden Knurren von Selbstverwünschungen zu zerknüllen und dem Papierkorb zu übergeben. In diesen modernen Zeiten sieht man den Cursor in Zeile fünf blinken. Markieren, löschen, zurück auf Anfang.

Ich weiß, dass ich ganz gut schreiben kann. Und mein Stichwortkasten mit Themen für diese Spalten ist gut genährt. Aber wie komme ich in den kreativen Prozess? Wie kriege ich mein Potential aufs Papier? Und die Uhr läuft, die Layouter warten, der Redaktionsschluss naht. Aber der Chef hängt. Mit Druck, mit bewusstem Nachdenken kommt man über die Blockade nicht weg, das ist eine Binsenweisheit unter den Angehörigen kreativer Berufe. Aber auch das gute Zureden von Ehepartnern und Kollegen wirkt nicht. "Das schaffen Sie doch! Wenn es jemand schafft, dann Sie!" Der gut gemeinte Ansporn drückt nur zusätzlich aufs Gemüt. Wenn die wüssten! Ich kann gar nix. Ich schaff es nicht. Und schon wieder sind fünf Minuten verstrichen. Gerade für die Weihnachtsausgabe darf es nichts Allerweltliches sein. Etwas Exquisites! Für unsere Leserinnen und Leser! Und dann so was!

Langsam in Panik geratend wühle ich in dem kleinen ­Bücherregal hinter meinem Schreibtisch. Ganz unten, ganz hinten entdecke ich ein Bändchen, in das ich unter normalen Umständen nie hineinsehen würde. Und wenn ich es täte, würde ich es nie zugeben: ein kleiner Ratgeber zum Thema "Kreativität". In meiner Not fange ich zu lesen an.

Jetzt, sofort brauche ich die Eingebung!

"Versuchen Sie nichts zu erzwingen! Haben Sie Geduld mit sich! Sie werden zu einer Lösung kommen!" Wie schön. Ich muss heute fertig werden. Es ist furchtbar, wenn Vorgesetzte mit schlechtem Beispiel vorangehen und alle Fristen im Produktionsablauf überziehen. Bald wird das Heft gedruckt. Und dann kommt Weihnachten!

"Und dann, vor dem Einschlafen, auf dem Nachhauseweg, beim Radfahren kommt der Geistesblitz", tröstet der Ratgeber. Aber dann ist es zu spät. Jetzt, sofort brauche ich die Eingebung!

Ein Geschenk für meine Frau habe ich auch noch nicht. Dasselbe Problem. Ich kann doch nicht einfach irgendetwas kaufen! Und in zwei Wochen singen wir "Stille Nacht" vor dem Baum! Nur: Darüber darf ich jetzt nicht nachdenken. Ich darf nicht abschweifen. Sonst fällt mir gar nichts mehr ein. In der Tür steht die freundliche Layouterin. Oder habe ich schon Halluzinationen? Ich möchte ja nicht drängeln, sagt die junge Frau leise und liebenswürdig. Wissen Sie was, keuche ich, hängen Sie doch einfach eine Eigenanzeige ins Heft mit großen Lettern. "Unserem Chefredakteur ist nur ein Satz eingefallen: Frohe und gesegnte Weihnachten Ihnen allen!"

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