Lena Uphoff
15.11.2010

In unserem Freundeskreis gibt es ein geflügeltes Wort: Wer sich mit Günter verabredet, den bestraft das Leben. Günter ist der König aller Zuspätkommer. Und ich weiß, wovon ich rede. Wer mich kennt, wird mich kaum einen Pedanten oder gar einen Pünktlichkeitsfanatiker nennen. Da ich schwer nein sagen kann und meinen Terminkalender entgegen allen Managementregeln grundsätzlich zu voll packe, hetze ich oft mit hängender Zunge meinen Zeitplänen hinterher. Ich bin der Hase. Und überall, wo ich hinkomme, ruft mir schon ein fröhlicher Igel "Ick bin allhier" entegegen.

Günter ist der König aller Zuspätkommer

Gemessen an Günter bin ich aber der sprichwörtliche Waisenknabe. Vor ein paar Monaten hatte ich mich für acht Uhr auf ein Glas Wein mit ihm verabredet. Meine Frau fragte mich beim Wetterbericht nach der Tagesschau: "Musst du nicht los? Mit wem triffst du dich eigentlich?" ­ Meine Antwort bestand aus einem Wort: "Günter." Und schon setzte die geliebte Ehefrau tröstend hinzu: "Dann kannst du ja noch gemütlich duschen." Niemand weiß besser als sie, dass ein Günter-Dating eine der ultimativen Herausforderungen in der bewohnten Welt ist.

Wir beide kannten Günter schon, bevor wir einander begegneten. Ja, Günter nimmt durchaus nicht ohne Grund für sich in Anspruch, uns bekannt gemacht zu haben. Das war etwa ein halbes Jahr, nachdem er eine Kollegin in Mailand auf dem Bahnhof vergessen hatte. Dort wollten sie sich für eine gemeinsame Dienstreise treffen. "Ich komme mit dem Auto", hatte Günter ihr mitgeteilt. "Am Montag, Punkt acht, hole ich dich auf dem Bahnsteig 11 ab." Günter kam einen Tag später. Die Kollegin, meine Frau, hatte sich nach fünf Stunden ohne Nachricht alleine per Zug auf die Weiterreise begeben. Günters abenteuerliche Erklärung hört sie sich bis heute nicht an. "Gut, es war die Zeit vor dem Mobiltelefon", unterbrach sie ihn stets, "aber ein findiger Journalist wie du hätte einen Weg gefunden, mich zu benachrichtigen. Gib doch nach zwanzig Jahren endlich zu, dass du mich schlicht und einfach vergessen hast. Und dass du genau einen Tag später gekommen sein willst, glaube ich dir einfach nicht!"

"Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht."

Nun haben wir das Handy-Zeitalter. Natürlich besitzt Günter ein solches Gerät. Wer ihn zu erreichen versucht, hört regelmäßig seine vertraute Stimme auf der Mailbox: "Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht."

Als ich an jenem Abend kurz nach neun in der Weinstube einlief, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Natürlich war von Günter noch nichts zu sehen. Ich setzte mich und bestellte einen Lemberger. Um halb zehn rief ich Günter an. Die Mailbox. Ich hinterließ, er solle sich doch melden, wenn er nicht kommen könne. Nach einer Stunde ohne Nachricht, sprach ich zum zweiten Mal auf die Box. Zwei nette Paare hatten sich an meinen Tisch gesetzt. Wir plauderten angeregt. Um elf bat ich um meine Rechnung. Kurz bevor die Kellnerin kam, ging die Tür auf. Ein grinsender Günter betrat das Lokal. "Sorry, musste schnell noch etwas erledigen." Meine Anrufe auf seinem Handy habe er nicht hören können: Der Akku sei leer. "Okay", sagte Günter, "wozu darf ich dich einladen?" Also gut, einen Kleinen noch, um den Ärger runterzuspülen.

Weil ich Günter kenne und ihm einfach nicht böse sein kann, redeten wir bis weit nach Mitternacht. Ich erzählte, dass ich am Samstagvormittag auf den Markt gehen wolle, weil ich Gäste zum Abendessen erwartete. "Klasse, ich komme mit", rief Günter, "ich hole dich Punkt zehn ab." Der Günter-Experte weiß, was das bedeutet: Ich schlug ihm vor, schon um halb neun zu kommen. Alles klar.

Als es Samstagmorgen, Viertel nach acht an der Haustür klingelte, fuhren wir verdattert aus dem Schlaf. Ich tapste zum Fenster. "Hallo!", rief Günter strahlend und fit zu mir hoch, "beeil dich bitte, ich habe um elf noch einen Termin. Da möchte ich auf keinen Fall zu spät kommen."

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