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Schrankenlos leben! Das wäre schön in unserem Dorf. Circa sechzigmal im Laufe eines Tages ist unser beschauliches Örtchen geteilt. Dann fährt die S-Bahn durch oder der Regionalexpress oder ein Güterzug. Der Bahnübergang befindet sich nicht irgendwo am Rande der Siedlung. Nein, die Bahn kreuzt unser Dorf ziemlich exakt in der Mitte, zwischen Kirche und Supermarkt, zwischen Sparkasse und Tankstelle, zwischen Arztpraxis und Apotheke, zwischen Kiosk und Wirtshaus.
Seit vier Jahren leben wir hier. Und immer noch stehen wir mit dem Auto oder als Fußgänger leise schimpfend vor den geschlossenen Schranken. Natürlich haben wir nach ein paar Monaten, wie alle Zugezogenen, gefragt, ob es denn nie Pläne gab, die Trasse zu verlegen, sie einzubuddeln, zu untertunneln oder auf Stelzen zu setzen. Lächelnd haben uns die schon länger hier Lebenden dann erzählt, warum es keiner Wutbürger bedurfte, um jedwede Pläne scheitern zu lassen.
Neulich, als ich mit meinem Hund mal wieder einen erfolglosen Spurt hingelegt hatte und die Schranken unter leisem Bimmeln niedergehen sah, kam ich prustend neben einem meiner Nachbarn zum Stehen. „Das ist mir schon hundertmal passiert“, grinste er mich an. Und fragte, wie es so ginge, wie wir das neue Jahr begonnen hätten. Er erzählte, dass er nächste Woche wieder ins Krankenhaus müsse. „Nix Großes“ – aber was Lästiges: „Die Prostata.“ Und seine Tochter habe endlich einen Job. Das musste er brüllen, weil gerade die Lok an uns vorüberdonnerte. Die Barriere hob sich, wir wünschten einander einen guten Tag.
Oft genug beginnt es mit einem gemeinsamen Schimpfen
Genaugenommen, dachte ich beim Weitergehen, ist die Bahnschranke mitten im Ort ein Segen. Sie stiftet Kommunikation. Oft genug beginnt es mit einem gemeinsamen Schimpfen: „Wie lange dauert es denn heute! Kann der Wärter nicht endlich aufmachen? Die Züge sind doch jetzt schon eine ganze Weile durch!“
Erst vorgestern kam ich so mit Lore aus dem Kirchenchor ins Gespräch. „Das ist doch gar nichts“, erwiderte sie, „was meinst du, wie lange ich hier schon gestanden bin? Einmal fast eine halbe Stunde. Es wurde schon vermutet, irgendwo sei ein Zugunglück passiert, dabei war der Kerl im Stellwerk an den Knöpfen einfach eingeschlafen. Sie haben ihn telefonisch geweckt.“ Und dann fragte Lore, ob ich zum Neujahrskonzert vom Chor käme.
Ein anderer Hundebesitzer erzählt mir unterm Warten, dass es etwas Neues gegen Zeckenbisse gebe. Zwei Mütter von Kita-Kindern berichten, dass dort ein grippaler Infekt umgehe. Max Stelzer zeigt uns stolz sein neues Elektrorad, erträgt gutmütig den Spott, dass ihm das am Bahnübergang aber auch nichts nütze. Und ich weiß auch, warum Herr X., der sonst so Freundliche, in den letzten Tagen so freudlos dreinschaute. Seine Nachbarin verrät: „Der Arme hat bei der Bankenfusion seine Zweigstellenleitung verloren.“
Frau F. erzählte mir, wie ihr Mann starb, und machte mir Mut
„Ihr gehört schon dazu“, sagte mir Paul aus dem Fußballclub neulich. Ja, man kennt uns und grüßt uns. „Das liegt mit Sicherheit auch an den Gesprächen vor der Schranke.“ Paul hat mich besonders genau beobachtet: „Wenn ein Autofahrer den Motor nicht ausmacht, drehst du dich langsam, mit ärgerlicher Miene zu ihm um und fixierst ihn, bis er reagiert. Wie ein Hiesiger!“ Wenn das kein Kompliment ist.
Nach zahlreichen Wohnsitzwechseln, mit oft ziemlich langen Anlaufzeiten beim Aufbauen von nachbarschaftlichem Kontakt, plädiere ich für Schranken, für ungewollte Stopps im täglichen Rennen und Hasten. Und wenn sie nur die minimale Gemeinschaft des Klagens über sie ermöglichen.
Aus Erfahrung weiß ich, dass es dabei eben nicht bleibt. Ich hätte von Frau F. nicht persönlich erfahren, wie ihr Mann starb, und sie in die Arme schließen können. Und sie hätte mich nicht ermuntert, Geduld mit meiner operierten Schulter zu haben – „Ich habe das auch aushalten müssen. Es nervt, aber es geht rum. Herr Brummer, verlieren sie den Mut nicht! Alles Gute!“ Lauter bitte, der Zug kommt!
Lauter bitte, der Zug kommt!
Hallo Herr Brummer,
bei uns in Lorsbach ersetzt die Bahnschranke sozusagen den Marktplatz.
Als es mich vor bald 20 Jahren nach Lorsbach " verschlagen" hat und ich ein paarmal am
Tag mit dem Auto vor der Schranke stehen mußte, habe ich geflucht. Seit ich zu Fuß ins
Dorf gehe freue ich mich über die netten Menschen (mit und ohne vierbeinige Begleitung)
denen ich begegne und mit denen ich einen Gruß oder ein paar Worte wechseln kann.
Der Tag sieht dann doch gleich ganz anders aus...
Liebe Grüße
Isolde Kittler
Übrigens: der zweite "Marktplatz" hier ist der Lorsbacher Laden von Cemal. Wäre vielleicht
auch mal eine Kolumne wert!
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