Paul Kingsnorth
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Bekehrung heute
"Ich fand das uralte Göttliche"
Es gibt tatsächlich – dem allgemeinen Eindruck zum Trotz – immer noch Zeitgenossen, die ihren Weg zum Christentum finden. Ein besonders interessantes und kontroverses Beispiel ist der britische Autor und Umweltaktivist Paul Kingsnorth. Denn seine Bekehrung ausgerechnet zur rumänisch-orthodoxen Kirche dürfte manche Weggefährten schockiert haben. Zudem wirbelte sie übliche Zuordnungen von links und rechts durcheinander.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
23.02.2024

Es hat ihn selbst und andere überrascht. Deshalb hat Paul Kingsnorth 2021 ausführlich in dem Essay „The Cross und the Machine“ Auskunft über seine Konversion gegeben. Auch wenn manches daran ziemlich britisch erscheint, ist es auch für uns in Deutschland bedenkenswert. Doch zunächst lasse ich den Autor sich selbst vorstellen:

„Ich bin zu 75 % Engländer, zu 25 % griechischer Zyprer, zu 100 % Europäer und zu 0 % Mitglied der Europäischen Union. Ich stamme von den Wikinger-Grafen der Orkney-Inseln ab. Mein Nachname ist kentisch und meine Familie stammt aus London. Ich bin in England aufgewachsen, wo meine Familie seit tausend Jahren lebt, und ich lebe jetzt im Westen Irlands, mit meiner englisch-punjabischen Frau und unseren Kindern, einigen Hühnern, einem Hund, einer Komposttoilette, einem Obstgarten, einigen Foliengewächshäusern und vielen Bäumen.“

Bemerkenswert ist auch, was andere über ihn sagen. Hier hat er die wichtigsten Etiketten aufgezählt, die ihm angeklebt worden sind:

„Kommunist, Anarchist, Reaktionär, schwammiger Liberaler, Sojaboy, Nativist, Höhlenbewohner, Romantiker, Öko-Sozialist, Öko-Faschist, Doomer, Nihilist, Umweltaktivist, der zum apokalyptischen Mystiker wurde.“

Jetzt muss man auch noch „Christ“ hinzufügen. Und so ist es gekommen: Aufgewachsen ist Kingsnorth als konventioneller Anglikaner. Religion war nur ein Teil des nationalen Erbes, des schulischen Lehrplans und in winzigen Spuren der Familienfolklore. Die Kirche erschien ihm in zwei Gestalten: als ältlicher, langweiliger Pfarrer und als jüngerer, modernistischer Pfarrer. Beide bestätigten sein Vorurteil, dass das Christentum ein erledigter Fall sei und dass man Atheist sein müsse, um als fortschrittlich zu gelten. Doch dann wuchs sein Bewusstsein für die ökologische Krise und ihre tieferen Gründe:

„Ich glaube, dass die globale industrielle Wirtschaft die lebenserhaltenden Systeme der Erde selbst zerstört, das Mosaik menschlicher Kulturen zerstört und die Menschen zunehmend als Futter für eine technisch-industrielle Maschine benutzt, die uns eines Tages verdrängen könnte. Deren kultureller Arm, der individualistische Liberalismus, ist unterdessen damit beschäftigt, unserem Leben jeglichen Sinn, jede Wahrheit und alle traditionellen Unterstützungsstrukturen zu entziehen.“

So ging er auf die Suche nach religiösen Gegenkräften. Zunächst versuchte er es mit Zen-Meditation, durchaus mit Erfolg, doch fehlte ihm hier die Liebe und die Anbetung. Danach schloss er sich der Wicca-Bewegung, einem englischen Neuheidentum, an. Er fand das Göttliche in der Natur. Das passte zwar zu seinem ökologischen Aktivismus, genügte ihm aber bald nicht. Kingsnorth brauchte „mehr“. Da geschah etwas:

„Im Jahr 2020, als die Welt auf den Kopf gestellt wurde, wurde auch ich auf den Kopf gestellt. Unerwartet und zunächst gegen meinen Willen wurde ich zum Christentum hingezogen. Es genügt zu sagen, dass ich das Jahr als eklektischer Öko-Heide mit einem lang anhaltenden, ungeformten Schmerz in meinem Herzen begann und es als praktizierender Christ beendete, wobei der Schmerz verschwand und durch das ersetzt wurde, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte. Im Januar 2021 wurde ich getauft und in die orthodoxe Kirche aufgenommen.“

Wie kann sich diesen plötzliche inneren Umschwung vorstellen?

"Ein Christentum mit altem Herz"

„Eines Nachts, träumte ich von Jesus. Der Traum war lebhaft, und als ich aufwachte, schrieb ich auf, was ich ihn hatte sagen hören, und ich zeichnete, wie er ausgesehen hatte. Der Kern der Sache war, dass er der nächste Schritt auf meinem spirituellen Weg sein sollte. Ich glaubte das nicht und wollte es auch nicht wahr haben. Aber das Bild und die Botschaft erinnerten mich an etwas Seltsames, das ein paar Monate zuvor geschehen war. Ich war bei einem Konzert der Musikschule meines Sohnes. Wir befanden uns in einem Veranstaltungsraum eines Hotels, voller Kinder, die bereit waren, ihre Instrumente zu spielen, und stolzer Eltern, die bereit waren, sie dabei zu filmen. Ich war gerade auf dem Weg zu meinem Stuhl, als ich völlig überwältigt war. Plötzlich konnte ich sehen, wie jeder im Raum mit jedem anderen verbunden war, und ich konnte sehen, was in ihnen und in mir selbst vor sich ging. Mich überkam eine riesige und unerklärliche Liebe, eine große Welle der Empathie für alle und alles. Sie kam und kam, bis ich aus dem Zimmer taumeln und mich draußen auf dem Gang hinsetzen musste. Alles war unverändert, und alles war neu, und ich wusste, was geschehen war und wer es getan hatte, und ich wusste, dass es zu spät war. Ich war gerade Christ geworden.“

Was Kingsnorth hier erzählt, enthält Element, die typisch für Konversionen, seit Paulus und Augustinus, sind: das Bewusstsein einer grundsätzlichen Krise und einer globalen Bedrohung, das religiösen Suchen und Ausprobieren, ein plötzliches Widerfahrnis, eine Überwältigung, ein Glücksgefühl der Entgrenzung und Verbundenheit. Doch was folgt daraus? Kingsnorth musste sich eine Gemeinde suchen:

„Ich akzeptierte schließlich, dass ich eine Kirche brauchen würde. Ich machte mich auf die Suche und fand eine, an dem letzten Ort, an dem ich sie erwartet hätte. Im Januar 2021, am Fest der Theophanie, wurde ich im eiskalten Wasser des Flusses Shannon, an einem Tag mit Frost und Sonne, in der rumänisch-orthodoxen Kirche getauft. In der Orthodoxie hatte ich die Antworten gefunden, die ich gesucht hatte, und zwar an einem Ort, an dem ich nie zu suchen gedacht hatte. Ich fand ein Christentum, das sein altes Herz bewahrt hatte – einen Glauben mit lebenden Heiligen und einem zentralen Ritual von tiefer und unerklärlicher Kraft. Ich fand einen Glauben, der im Gegensatz zu dem, den ich als Junge gesehen hatte, keine verstaubte moralische Schablone war, sondern ein mystischer Weg, eine uralte und verwurzelte Sache, die auf eine Welt hinweist, in der das Göttliche nicht abwesend, sondern überall gegenwärtig ist und sich in den Bergen und Gewässern bewegt.“

Aus dem Archiv: Warum Iraner zum Christentum konvertieren 

Ausgerechnet in dieser winzigen, anachronistischen Kirche hat Kingsnorth seine Heimat und die Gegenkraft zur „Maschine“ der naturzerstörenden Moderne gefunden.

„Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, den man allen modernen Menschen beibringt: dass Freiheit das Fehlen von Zwängen bedeutet. Die Orthodoxie lehrte mich, dass diese Freiheit gar keine Freiheit war, sondern eine Versklavung an die Leidenschaften. Die wahre Freiheit, so stellt sich heraus, besteht darin, den eigenen Willen aufzugeben und dem Willen Gottes zu folgen. Sich selbst zu verleugnen. Es kommen zu lassen… Im Reich des Menschen sind die Meere von Plastik durchzogen, die Wälder brennen, die Städte wimmeln von Milliardären und Zeltlagern, und trotzdem knien wir vor dem Götzen des großen Gottes Wirtschaft, der wie eine Krebszelle wächst und wächst. Und was, wenn dieser uralte Glaube gar kein Hindernis ist, sondern ein Weg hindurch? Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, und vielleicht werden wir immer daran scheitern, ihn zu gehen. Aber gibt es einen anderen Weg, der nach Hause führt.“

Ich zitiere so ausführlich, weil es am besten ist, religiöse Selbstkundgaben anderer Menschen erst einmal anzuhören und auf sich wirken zu lassen. Und in der Tat, diese Zeilen wirken auf mich, obwohl mein Weg ein ganz anderer war. Dieser verlief in den Bahnen der eigenen Herkunftstradition, war kontinuierlicher, schwächer vielleicht, dafür weniger durch die Opposition gegen etwas anderes angetrieben, weniger in absoluten Alternativen lebend, kompromissbereiter, deshalb auch weniger interessant. Zum Glück muss ich unsere Wege nicht vergleichen, mich nicht rechtfertigen oder anklagen, Kingsnorths Bekehrung nicht bewerten. Es gibt viele Wege. Fragwürdig und sinnvoll kann jeder von ihnen sein.

P.S.: Warum fasziniert Caspar David Friedrich heute noch so viele Menschen? Darüber spreche ich in meinem Podcast "Draußen mit Claussen" mit der Kunsthistorikerin Birte Frenssen von Pommerschen Landesmuseum Greifswald.

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Zitat H. Kingsnorth:
"Ich glaube, dass die globale industrielle Wirtschaft die lebenserhaltenden Systeme der Erde selbst zerstört, das Mosaik menschlicher Kulturen zerstört und die Menschen zunehmend als Futter für eine technisch-industrielle Maschine benutzt, die uns eines Tages verdrängen könnte".

Richtig. Und dennoch Frage-würdig. Zweifellos baut die Zivilisation den Babel-Turm. Wer hat uns die Zivilisation mit all ihren Vorteilen und Nachteilen "geschenkt"? H. Kingsnorth scheint für diese Zivilisation nicht geeignet zu sein. Er ist auf der Suche danach, die guten Seiten der Zivilisation zu nutzen und die Probleme zu vermeiden. Sein gutes Recht. Er blendet aber aus, dass die Gesamtgesellschaft diese Wahl nicht hat. Denn der größte Teil von ihr lebt vom ökologischen Mißbrauch, von der Vernichtung aller Rohstoffe und der Natur. Die Bewohner der Megazentren in Asien und Afrika können nicht so leben wie er. Deren Sinnsuche dient dem Überleben. Will er deren Richter sein? Es gibt nicht den grossen Unbekannten als den verantwortlichen Steuermann. Die Steuerung gehorcht der Summe und Wirkung der menschlichen Eigenschaften von allen Beteiligten. Die Kultur-Mosaiken sind ein alter Luxus der Individualitäten. Zivilisation bedeutet auch einen rücksichtslosen Leistungsvergleich zwischen den Kulturen. Wohin das führt? Keiner weiß es, alle ahnen es und niemand möchte es auf Dauer wahr haben. Das Leben besteht aus Anfang und Ende. Alles andere auch. Wer das nicht akzeptieren will, muss sich eine andere Welt suchen. Wenn Flasche leer, Spiel ist aus.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur