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Bei einem Klassentreffen auf dem Land merkt man es am schnellsten: Die einen sind am Ort geblieben. Sie pflegen unter sich die alten Freundschaften, haben Schuljahre und Berufseinstieg beim anderen miterlebt und winken sich jetzt, das Wetter kommentierend, über den Gartenzaun zu. Die Kinder gehen gemeinsam in eine Schule und machen ähnliche Probleme, wie man sie den eigenen Eltern auch bereitet hat. An Krisen und Krankheiten der anderen nimmt man intensiv Anteil.
Beim Klassentreffen trifft man keine Freunde
Eine beneidenswerte Gemeinschaft, zu der man nicht mehr gehört. Schon vor Jahren weggezogen, schaut man sich verblüfft um: Sie scheinen sich alle gleich geblieben, einander vertraut - und einem selbst dadurch ganz fremd. Freunde sind dort längst nicht mehr; die hat man woanders gefunden: am neuen Lebensort.
Wer umzieht, den Arbeitsplatz wechselt oder verliert, wer eine Trennung hinter sich hat, der muss oft Menschen zurücklassen, die einem jahrelang Freunde waren. Nur selten gelingt es, einen Freund, eine Freundin über große räumliche und zeitliche Distanz hinweg zu behalten. Der englische Schriftsteller Oscar Wilde hat zwar gesagt: "Freundschaft ist weitaus tragischer als Liebe. Sie dauert länger." Aber wenn Freundschaft nicht mit intensivem Austausch erfüllt ist, kümmert sie vor sich hin und erstirbt schließlich ganz.
"Freundschaft ist weitaus tragischer als Liebe. Sie dauert länger."
Was also tun, wenn durch die eigenen Lebensumstände langjährige Beziehungen zu Ende gegangen sind? Das Wichtigste ist, gute Kontakte von Freundschaften zu unterscheiden. Andernfalls wird man in seiner Sehnsucht nach Menschen, die einem wirklich nahe sind, schnell enttäuscht. Kontakte kann man in der Jugendgruppe, in der Firma, im Studium knüpfen. Gute Kontakte hat man mit dem Arzt, seinem Lieblingstaxifahrer oder dem Gemüsehändler. Man kann sich dem Kirchenchor anschließen, mit anderen Skat spielen oder Tango tanzen. Das alles sind nette Kontakte, aus denen Freundschaften erwachsen können. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Wer sich in der neuen Stadt, am ungewohnten Arbeitsplatz einsam fühlt, der sollte zuerst solche Kontakte suchen. Es ist keineswegs peinlich, die Dame von nebenan auf ein Gläschen Wein einzuladen oder die Rasselbande aus dem Nachbarhaus samt ihren Eltern mit den eigenen Sprösslingen bei Kuchen und Limonade zusammenzubringen. Warum nicht auch nette Kollegen zu einem kleinen Abendessen zu sich nach Hause bitten?
Es macht gar nichts, wenn andere merken, dass man auf der Suche ist. Könnte doch sein, dass jemand auf so ein Signal, vielleicht in einer Anzeige, wartet: Auch alleine, auch voller Hoffnung auf einen Menschen, mit dem "die Chemie stimmt", der mit einem nicht allein Freizeitaktivitäten, sondern Gedanken und Gefühle teilt. Man sollte nicht ängstlich die Reaktionen anderer in der eigenen Phantasie vorwegnehmen und sich vorstellen, dass sie womöglich gar nicht näher mit einem bekannt sein wollen. Wenn Eingeladene keine Lust haben, einen kennen zu lernen, sollen sie es auf freundliche Weise mitteilen. Aufdringlich wäre man nur dann, wenn man nicht locker lässt, obwohl signalisiert wurde, dass kein Bedürfnis nach Kontakt besteht.
"Wer aller Menschen Freund, der ist der meine nicht."
Im neuen Umfeld empfiehlt sich also die Suche nach Bekannten, mit denen man etwas gemeinsam hat. Echte Freunde dagegen sind etwas, das man nicht suchen, nur finden kann. Sie sind ein seltenes Geschenk, denn wie Molière, der Meister der Komödie, sagt: "Wer aller Menschen Freund, der ist der meine nicht." Mit einer kleinen Zahl von wahren Freunden, denen man nicht bloß vertraut, sondern denen man sich anvertraut, lässt es sich besser leben. In einem wenig bekannten Anhang zum Alten Testament steht der Satz: "Ein treuer Freund ist ein starker Schutz; wer den hat, der hat einen großen Schatz" (Jesus Sirach 6,14). Freunde und Freundinnen, das sind die, denen man alles gestehen kann verrückte Ideen, wilde Phantasien, den größten Kummer.
Es braucht einige wenige Männer und Frauen, mit denen man herumalbern und traurig sein kann. Denen man ohne Angst die eigenen Schattenseiten zeigen darf. An die man sich jederzeit wenden kann. "Ein treuer Freund ist ein starker Schutz." Das ist mehr als miteinander reden und den Schraubenzieher in die Hand nehmen. Besonders wertvoll ist Freundschaft dann, wenn man weiß: Der oder die andere ist einem gegenüber vollkommen ehrlich. Kein Sich-herum-Winden, keine Lügen, keine üble Nachrede, keine Lobhudeleien. Freund, Freundin ist, wer einem aufrichtig begegnet. Wer glasklar sagt: "Da liegst du völlig falsch", oder: "Spitze, hast du super hingekriegt."
Es empfiehlt sich, lieber mal eine ganze Zeit lang "bloß" freundliche Kontakte zu pflegen, als im Hauruck-Verfahren falsche Freunde an Land zu ziehen, die dann mitsamt allem, was man ihnen aus dem eigensten Inneren mitgeteilt hat, treulos und geschwätzig davonziehen. Auf echte Freunde zu warten, das lohnt sich so, wie auf die wahre Liebe zu hoffen. Beide kommen manchmal recht spät, aber dann mit Macht.